#10. Türchen

von | 10.12.2015 | #litkalender, Kreativlabor

Großstadt Schneeleopard

„Ich sehe was, das du nicht siehst…“, unterbricht er unser Schweigen. Seine Worte knistern in der eiskalten Stille. Seit Stunden schneit es. Frische, weiche Flocken schmiegen sich um die aufgeschütteten, grauen Schneetürme am Wegesrand.
Ich sehe zu ihm hinüber.
Unterschiedlicher könnten zwei Männer nicht sein.
Ich bin der Giraffentypos.
Ich schwanke träge und orientierungslos durch das Gelände.
Er hingegen bewegt sich geschmeidig und sicher.
Wenn ich ihn mir hier in der vereisten Winterwüsten‐Parkanlage anschaue, erinnert er mich
an einen Schneeleoparden.
Er hat alles unter Kontrolle.
Das bewundere ich.
Der Schneeleopard und ich.
Uns verbindet nicht viel.
Nur das Laufen.
Joggen, bei Wind und Wetter.
„Also?“, fragt er.
„Ich sehe noch nichts.“
Dabei strenge ich meine Augen wirklich an. Sie schweifen in alle Himmelsrichtungen und entdecken nichts.
Kein Wunder.
Um uns herum ist alles weiß, hier und da sind verschwungene Pfade, graue Bäume und Sträucher.
Die Natur schläft.
Es ist Winter.
„Ich sehe was, das du nicht siehst und es ist blau!“, beginnt er von Neuem.
Der Schneeleopard sieht also etwas.
Ich habe es gehört und lache in meinen dünnen Giraffenhals.
Da ist doch nichts.
Er kann gar nichts sehen.
Weit und breit nur Winter.
Der Großstadt‐Schneeleopard will mich ärgern.
Wahrscheinlich hat er mal wieder so ein Gefühl.
So ein Gespür.
Dauernd spürt er was.
Was soll das sein, das nur er spürt und niemand sieht?
„Ich sehe was, das du nicht siehst und es ist blau, rot und gelb“, sagt er neben mir und schnauft.
Wir erhöhen das Tempo.
„Du spinnst!“, sage ich.
Trotzdem kneife ich meine Augen fest zusammen.
Plötzlich ein Fleck in der Ferne.
Im weißen Nichts.
Ein schwebender Punkt.
Ein Farbklecks.
Er entsteht direkt vor meinen Augen. So als wäre ein Maler Herr über die Winterlandschaft vor mir.
Mit dem Klecks beginnt er sein neues Werk. Fieberhaft, mit zarten Pinseltupfen, wagt er sich an eine neue Idee, bannt sie auf die Leinenwand.
Der Rest ist Fantasie.
Meine Fantasie.
Ich stelle mir vor, ich… ich stelle mir vor, es ist…
„Ja? Was?“, fragt der Großstadt‐Leopard neben mir, meine Gedanken lesend.
Ich bleibe stumm.
Ich sehe ja noch nichts, außer einem Klecks.
Keine Details.
Keine Formen.
Keine Farben, geschweige denn blau, rot und gelb.
„Ist es ein Tier?“, fragt er.
„Nein.“
Ein Tier?
Im Stadtpark?
Meine Güte, bitte nicht!
Wir lauschen und warten, aber bleiben nicht stehen.
Rhythmus und Tempo halten uns warm.
Der Klecks in der Ferne wächst und bekommt eine merkwürdige Form, die seine zarten Umrisse in das Winterweiß malt.
Es entsteht daraus eine Menschengestalt.
Mein Puls ist in Höchstform.
Heißer Atem schießt wie Lokomotivenqualm in die Kälte.
Die Gestalt vor mir wird gleichmäßig.
Geschwungen.
Weich.
Weiblich.
„Eine Frau!“, verkünde ich, als sei es eine Offenbarung.
Ein wohlgeformter Körper mit Armen, Beinen und Kopf.
Sie geht schnell.
Ein schwungvolles Stampfen.
Die Arme wippen dazu leicht.
Ich finde, es sieht ein bisschen wie ein Urwald‐Tanz aus.
„Beschreib sie!“, fleht er.
Fühlen ist eben nicht Sehen, mein Freund! Ich kneife die Augen erneut zusammen. Die Schneeflocken verdichten sich.
Es dauert ein bisschen, bis ich mehr als nur Kopf, Arme und Beine wahrnehmen kann.
Ich sehe ein Gesicht.
Ein Lächeln.
Fröhlich.
Hände wischen Schnee von den Wangen.
„Hübsch“, murmle ich.
„Genauer!“
„Eng anliegender Mantel mit Knöpfen bis über die Knie.“
„Blau“, flüstert der Schneeleopard.
„Korrekt. Der Mantel ist blau.“
Natürlich hat er das von Anfang an gespürt.
Die Frau rückt näher und näher. Sie ist nicht mehr weit weg und hat uns entdeckt.
Ihr Tempo bleibt gleich.
Ich frage mich, wie wir drei einander vorbeikommen wollen. Der Weg zwischen den hohen
Schneebergen links und rechts ist zu schmal.
„Was siehst du noch?“, bettelt er neben mir.
„Eine Wollmütze und Handschuhe.“
„Gelb.“
„Ja. Und ein langer Schal!“
„Rot.“
Mein Freund der Schneeleopard feiert sich und sein Gespür.
Ich bin fasziniert.
Blauer Mantel.
Gelbe Mütze und Handschuhe.
Roter Schal.
Blau.
Gelb.
Rot.
Meine Fähigkeit zu sprechen habe ich schlagartig verloren.
Wegen ihr.
Wegen ihm.
Wegen ihm.
Wegen des Momentes.
Ihr Gang wird langsamer.
Unsicher.
Sie zögert.
Dann ist sie so nah, dass ich einen Arm nach ihr ausstrecken kann. Ich schaue ihr in die Augen.
Sie erwidert den Blick.
Mir wird schwindelig.
Das Blau, Rot und Gelb leuchtet mir bedrohlich entgegen. Ein Zusammenprall mit dieser
Farbpalette steht unmittelbar bevor, also rufe ich in meiner Not: „Hände hoch!“
Der Schneeleopard und ich, sein Freund, die Giraffe, reißen die schlaffen, müden
Vordergliedmaßen in die Höhe, sodass der bezaubernde Farbklecks in Gestalt der Frau
zwischen uns hindurchgleitet.
Ein zarter Windhauch.
Süßliches Parfüm.
Grüne Augen.
Ein Funke Verwunderung.
Wir joggen weiter.
Gleichschritt.
Atmen.
Kein Blick zurück.
Kein Wort.
Doch ich halte es nicht aus und drehe mich nach ihr um. Die Frau ist stehen geblieben und
sieht uns nach. Ich weiß, was sie denkt, was sie sich fragt.
Was habe ich da gesehen?
Nicht etwa einen Schneeleoparden und eine Giraffe.
Nein.
Die Frau hat zwei nebeneinander joggende Männer, die mit einer dünnen Schnur, Arm an
Arm gekettet sind, gesehen. Das Band zwischen mir und ihm ist eine Sicherheitsleine.
Der Schneeleopard ist blind.
Die Giraffe nicht.
Die Umrisse der Frau werden immer kleiner. Das macht mich traurig. Die Farben ihrer
Gestalt verblasen, verlaufen, werden vom Schnee eingesaugt.
Die Welt ist farblos, eine unbefleckte Leinwand.

Text und Bild: Lolita Büttner
www.lineerror.de

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

3 Kommentare

  1. Avatar

    Ich habe mir den Schluss schon fast so vorgestellt! Sehr gut!

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  2. Avatar

    Wouww, das ist ja ein Marathon-Gedicht. Interessant. Ich glaube ,jeder von uns hatte schon einmal so eine Begegnung. Ich mag Tiere sehr gerne, doch als ich einmal mit meinen Kindern in einem Zoo in Jamaica war,
    standen wir plötzlich einem Tiger gegenüber. Uns trennte nur ein lächerlicher Drahtzaun, ähnlich wie wir hier die Hühner verwahren. Der Tiger stand uns gegenüber und ich verspürte die Kraft, die in diesem Tier steckte. Panik ergriff mich, denn ich traute diesem Zäunchen nicht. Wenn er jetzt die Pfote hob und an diesem Zaun rüttelt, was dann ? Ich umklammerte die Händchen meiner Kinder und diese waren auch ganz still geworden. Ich werde nie diese Hilflosigkeit vergessen, ich konnte mich nicht einmal mehr bewegen. Der Tiger starrte mich an– und ich glaube, ich starrte zurück. Vielleicht waren dem Tiger diese menschlichen Statuen auf die Dauer zu langweilig, denn er drehte ab und ging majetätisch davon. und meinten, jetzt gehen wir zu den Krokodilen.

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    • Avatar

      Das klingt nach einem aufregenden Abenteuer, das man so schnell nicht vegisst! Danke, dass Du diese Geschichte mit uns geteilt hast!

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