100 Jahre Stanisław Lem

von | 26.08.2021 | Auditorium, Hörspiele

Am 12. September wäre der polnische Science-Fiction-Autor Stanisław Lem 100 Jahre alt geworden. Seine Werke wurden in 57 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Die bekanntesten sind dieses Jahr in einer großen Hörspiel-Box bei Der Audio Verlag erschienen. Zeichensetzerin Alexa hat sich die Hörspiele anlässlich des Jubiläums angehört.

Stanisław Lem, geboren am 12. September 1921 in Lemberg und verstorben 2006 in Krakau, hat den technischen Fortschritt stets kritisch betrachtet – und dies wird immer wieder in seinen Werken deutlich. Es geht um Roboter, die einen eigenen Willen entwickeln und den Menschen gefährlich werden können. Um technische Mittel, mit denen menschliche Gefühle wie Aggressionen unterdrückt werden, und Erfinder, die mit ihren Erfindungen den Terrorismus verhindern wollen. Manche Geschichten erscheinen pessimistischer, andere verfolgen utopische Ideen. Oftmals werden dabei Fragen der menschlichen Existenz in den Mittelpunkt gerückt. Lems Werke enthalten in unterschiedlichen Dosierungen Humor und Absurdität, philosophische Fragen und Zukunftsvisionen.

Roboter, Maschine, Mensch

In „Der getreue Roboter“ erhält der Schriftsteller Clempner überraschend einen weiblichen Roboter per Post und entschließt sich nach einiger Überlegung, ihn zu behalten. Der Roboter, genannt Graumer, wird immer unentbehrlicher, entwickelt jedoch zunehmend einen eigenen Willen und den Wunsch, einen perfekten Menschen zu erschaffen, der ihm mehr Wertschätzung entgegenbringt als Clempner. Die Geschichte nimmt eine überraschende Wendung, als Graumer ihr Vorhaben in die Tat umsetzt.

„Der getreue Roboter“ wirft Fragen auf, die die Beziehung zwischen Mensch und Roboter betreffen. Wie sollen beziehungsweise wollen Roboter behandelt werden? Können deren Gefühle verletzt werden? Sind Roboter gleichwertige Wesen? Die Erzählung wird sehr eindrücklich und spannend erzählt. Im Gedächtnis bleiben nicht nur die moralischen Fragen, sondern auch die angespannte Atmosphäre, die über die unterschiedlichen Sprecherstimmen und wenige Geräusche erzeugt wird.

Während es in „Der getreue Roboter“ darum geht, dass Roboter zunehmend menschlicher werden, wird in „Schichttorte“ ein Fall beschrieben, in dem ein Mensch aufgrund von Prothesen immer mehr zur Maschine wird. Die Erzählung beginnt mit einer Gerichtsverhandlung: Nach einem Unfall wurden einzelne Körperteile des Rennfahrers Mr. Jones durch High-Tech-Prothesen der Marke Cybernetics ausgetauscht. Jetzt schuldet der ehemalige Rennfahrer dem Konzern viel Geld. Bei der Verhandlung versucht er, die Anklage zu entkräften, indem er behauptet, keine Person mehr zu sein, sondern aufgrund der Prothesen eine Maschine, die der Cybernetics Company gehört. Ist diese Ansicht gerechtfertigt? Die Verhandlungen in „Schichttorte“ erscheinen absurd und regen doch zum Philosophieren an: Ab wann ist ein Mensch eine Maschine und keine Person mehr? Kann ein Mensch überhaupt zur Maschine werden?

Von Wissenschaftlern und Erfindern

In „Die Lymphatersche Formel“ erzählt ein Wissenschaftler von seinen interdisziplinären Forschungen, durch die er die nächste Evolutionsstufe erschaffen konnte. Dieser Fortschritt bringt jedoch verheerende Konsequenzen mit sich: Der Mensch wird sich selbst abschaffen. Auch wenn die Grundidee sehr spannend ist, erscheint dieses Hörspiel, das von einem Monolog getragen wird, sehr zäh. Es ist, als würde man einem 54-minütigen wissenschaftlichen Vortrag lauschen, dem man aufgrund von mangelndem Hintergrundwissen nicht folgen kann. Die Konzentration lässt bald nach, die Gedanken beginnen abzuschweifen. Von allen Hörspielen dieser Box ist „Die Lymphatersche Formel“ das schwächste.

Deutlich spannender wird es hingegen in der Erzählung „Professor Tarantogas Sprechstunde“: Zur Sprechstunde des Professors erscheinen Erfinder, die um die Finanzierung ihrer Projekte bitten – und sie haben die verrücktesten Ideen: Einer will die Vergangenheit verändern, um die Entdeckung der Atomkraft zu verhindern, ein anderer behauptet, eine Waffe gegen den Terrorismus erfunden zu haben …

In den Gesprächen, die der Professor mit den Erfindern führt, werden Argumente abgewogen; manche Projekte nimmt der Professor ernst, andere hingegen belächelt er. Die Ideen der Erfinder sind kurios, absurd, aber spannend und die Gespräche daher sehr unterhaltsam. Was wäre, wenn diese Projekte tatsächlich umgesetzt werden könnten? Könnten Kriege wirklich verhindert werden? Würde die Lösung eines Problems nicht zu anderen Problemen führen? Anders als „Die Lymphatersche Formel“ erscheint dieses Hörspiel alles andere als langatmig. Im Gegenteil: Ich hätte sehr gerne noch länger zugehört und erfahren, wie einzelne Projekte umgesetzt werden und welche Auswirkungen sie wohl hätten.

Fremde Planeten

In zwei der Hörspiele geht es in den Weltraum, genauer: auf fremde Planeten – wie in „Solaris“: Psychologe Kris Kelvin landet auf dem Planeten Solaris. Auf einer Forschungsstation findet er eine psychisch labile Mannschaft vor, die abstreitet, dass sich weitere Personen auf der Station befinden. Kelvin glaubt, verrückt zu werden, als er seine Freundin Harey sieht, die sich vor Jahren das Leben genommen hat. Doch dann findet Kelvin heraus, was es mit ihrem Auftauchen und dem von anderen ungebetenen Gästen auf sich hat.

„Solaris“ kann mittlerweile wohl als Klassiker bezeichnet werden, so oft wie die Erzählung in anderen Medien – wie Filmen, Bühnenstücken, Opern und Hörspielen – adaptiert wurde. Dank einer Filmadaption, die beim Bremer Filmsymposium im Jahr 2015 gezeigt wurde, habe ich erst Interesse an Stanisław Lems Werken entwickelt.

Auch „Der Unbesiegbare“ spielt auf einem fremden Planeten: Regis III. Die Besatzung des Schiffes „Der Unbesiegbare“ findet das vor 8 Monaten in der Wüste gestrandete Raumschiff „Kondor“ vor. Dieses ist unversehrt, doch die 100 Besatzungsmitglieder sind verstorben. Einer von ihnen befindet sich im Kühlraum – seine Organe sind so gut erhalten, dass die letzten Gehirnaktivitäten abgehört werden können, doch es sind nur zusammenhanglose Laute zu vernehmen. Die Spannung steigt zunehmend, als es darum geht herauszufinden, was wohl mit der Besatzung der „Kondor“ geschehen sein könnte.

Von Außenseitern und Konkurrenten

Als Astronaut Hal Bregg in „Rückkehr zur Erde“ (Buchtitel: „Rückkehr von den Sternen“) nach 127 Erdenjahren auf die Erde kommt, hat sich die menschliche Gesellschaft verändert: Alle Menschen werden bei der Geburt „betrisiert“, ein Routineeingriff, der verhindert, dass sich Menschen aggressiv und gewalttätig verhalten. Die Tatsache, dass Hal nicht betrisiert ist, macht ihn zu einem Außenseiter, der von anderen gemieden wird. Er begreift, dass seine Mitmenschen Angst vor ihm haben – wie auch Frau Tarrit, in die er sich unsterblich verliebt hat. Das Hörspiel wird von der Frage getragen, ob diese Liebe eine Zukunft hat, wobei die Handlung ziemlich wirr erscheint. Trotzdem habe ich gerne zugehört, insbesondere, weil hier spannende Themen rund um Kontrollverlust und Emotionen behandelt werden.

Verrückter und absurder als in allen zuvor vorgestellten Hörspielen geht es aber in „Königsmatrix“ (Buchtitel: „Die Räte des Königs Hydrops“) zu. Hier versuchen die königlichen Großprogrammierer Maximatus und Minimatus einen Thronfolger für Robotanien zu programmieren und sich dabei gegenseitig zu besiegen: Weil sie dem königlichen Thronfolger einprogrammiert haben, dass er „Kleinere“ bevorzugt, tun sie alles, um mithilfe des Handwerkers Reparatus immer kleiner zu werden …

Man fragt sich beim Hören, ob das gut gehen kann und wie verrückt man sein muss, um aus Konkurrenzgründen derartige Risiken einzugehen. Mein Fall war diese Erzählung nicht, auch wenn die Idee interessant ist. Für mich fiel „Königsmatrix“ etwas aus dem Rahmen, weil die Handlung hier im Vergleich zu den anderen Titeln unglaubwürdiger erscheint. Es ist mehr Fiction als Science, was verwundert, weil es Lem immer wichtig war, eine wissenschaftliche Grundlage für seine Erzählungen zu haben.

Eine hörenswerte Hörspielbox

Auch wenn mich nicht alle Hörspiele aus dieser Box überzeugt haben, so finde ich diese dennoch gelungen zusammengestellt. Die Themen sind abwechslungsreich und es werden alle Bereiche abgedeckt: Es geht um Roboter, Maschinen, Wissenschaft und Erfindung, fremde Planeten, Raumschiffe, technischen Fortschritt im Zusammenhang mit dem menschlichen Körper, Kontrolle und Wahnsinn.

Überzeugend ist außerdem die Umsetzung: Bei allen Titeln liegt der Fokus auf dem Text. Ob Dialog oder Monolog – es geht vorrangig darum, den Inhalt und dessen Kernaussagen so zu transportieren, dass diese nachklingen. Dabei schwingt meist ein ernster Grundton mit, der entweder zur beklemmenden Atmosphäre, Spannung oder tiefsinnigen Stimmung beiträgt. All den philosophischen Fragen und Gedanken wird außerdem ausreichend Raum gelassen. Denn auch wenn es sich um Hörspiele handelt, wird mit Musik und Geräuschen sparsam umgegangen. Wenn es welche gibt, dann als Besonderheit: Bei „Der getreue Roboter“ erinnere ich mich vor allem an das Klacken der Schreibmaschine, bei „Schichttorte“ an Motorgeräusche während des Rennfahrens, und bei „Der Unbesiegbare“ an die Hintergrundgeräusche eines Raumschiffes, wie monotone Signale und Rauschen.

Wer sich für Science-Fiction oder Stanisław Lems Werke interessiert, wird mit dieser Hörspielbox große Freude haben. Ich fühlte mich – abgesehen vom Hörspiel „Die Lymphatersche Formel“ – sehr gut unterhalten und konnte viele Fragen und Denkanstöße für mich mitnehmen. Kurz: Empfehlenswert!

Die große Hörspiel-Box. Stanisław Lem. Gelesen von: Gert Westphal, Felix von Manteuffel, Maria Simon. u.v.a., Regie: Werner Grunow, Friedhelm Ortmann, Peter Rothin u.a. Der Audio Verlag. 2021. Laufzeit: ca. 7 h 53 min.

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