#12. Türchen

von | 12.12.2015 | #litkalender, Kreativlabor

Das Grauen von Boltenhagen

Diese Zeilen schreibe ich unter großen geistigen Anspannungen, die nichts sind im Vergleich zu der nervlichen Pein, hervorgerufen durch gewisse Vorkommnisse… grauenvolle Vorkommnisse, die sich im Jahre des Herrn 2014 zur Weihnachtszeit in dem beschaulichen Küstenstädtchen Boltenhagen zugetragen hatten! Meine Finger zittern immer noch ob des Schattens dieser schrecklichen Erinnerungen, kaum fähig, die Tasten meiner Schreibmaschine zu treffen. Meine Augen flirren wie Irrlichter über das wirre Geschmiere meiner handschriftlichen Aufzeichnungen… huschend, zweifelnd, ob wirklich ich es gewesen war, der dies geschrieben hatte, oder nicht vielleicht die Ausgeburt eines gewissen Wahnsinns, der mich befallen hatte und nunmehr als verklingendes Echo immer noch die Macht hat, mich derart zu quälen!

Wir erhielten seinerzeit die Nachricht, das Weihnachtsfest in dem besagten Küstenstädtchen Boltenhagen — eigentlich mehr ein Dorf — bei der Familie meiner Frau zu verbringen. Nun war eigentlich nichts Schlimmes daran, und ich freute mich schon aufrichtig auf die gemeinsame Zeit. So ist es doch immer: Die Dinge beginnen zunächst völlig harmlos…

»So, nun sag brav etwas auf, dann gibt’s Geschenke!«, sagte ›Schwiegeroma‹ Christel zu ihrem Enkel Benny, meinem Neffen.
»Setz dich, Oma! Sonst gibt’s kein Gedicht!«, antwortete der Kleine grinsend.
Wir setzten uns also. Benny hatte die bahnbrechende Idee, jedes einzelne Wort des Liedes ›Jingle Bells‹ nach und nach durch ›Shit‹ zu ersetzen. Omas Gesichtszüge entgleisten, und Schwiegeropa Helmuts Mundwinkel zuckten. Ich klatschte im Rhythmus mit; meine Frau verdrehte die Augen. Benny schaffte es bis ›Shitting on the snow‹; da sprang der Opa auf.
»Ist gut jetzt!«, sagte er und drückte Benny in Richtung der aufgebauten Geschenke. »Auspacken!«
»Benny, versuch das Lied doch das nächste Mal mit ›Piss‹!«, ermutigte ich den Jungen und setzte flüsternd nach: »Oder einfach mit ›Pipi‹«
»Pipi, ist das Englisch?«, fragte Schwägerin Meike, Bennys Mutter.
Ich bestätigte es ihr und behauptete, dass man es im Angelsächsischen jedoch mit ›y‹ am Ende schreibt.
Mittlerweile lag Benny unter einem Berg von Geschenkpapier begraben, aus dem plötzlich ein ferngesteuertes Auto sauste.
»Huiii!«, sagte meine Frau. »Ganz toll!«
»Benny pupst!«, drang es dumpf aus dem Müllberg hervor. Benny hatte die Wahrheit gesagt und stimmte nun wieder ›Shitty Bells‹ an, das uns fortan nicht mehr verlassen sollte.

Später am Abend gab es das Weihnachtsessen, das mit ›Scallopse aus der Tiefsee‹ angekündigt wurde. Klang für mich eher wie der Titel eines B-Movies, und genauso geschmacklos sahen die blassen, daumengroßen Knorpel auch aus.
»Mein Gott, was ist das?!«, fragte ich.
»Scallopse aus der Tiefsee!«, sagte Schwiegeropa Helmut und strich sich über sein Menjoubärtchen.
»Möpse aus der Tiefsee?«, fragte Benny scheinbar ahnungslos.
»Nein! S-c-a-l-l-o-p-s-e!«, kam es unwirsch zurück. »Ist was ganz was Feines! Gibt’s nur einmal in drei Jahren bei Lidli!«
Ich verlieh meiner Stimme einen mystischen Klang: »Klopse der Tiefsee!« und stach in einen der rundlichen Knubbel. Das Ding platzte, und eine gallertartige Masse spritzte mir entgegen.
Was mögen das nur für sonderbare Kreaturen sein?, dachte ich bei mir. Krepeln in der Tiefsee herum, um dann, irgendwann nach Jahren, an die Oberfläche zu kommen… Zum Luft schnappen? Der Scallops schmeckte widerlich!
»Ist ganz was Feines! Haben einen ganz zarten und feinen Geschmack, nicht?«, sagte nun Oma Christel und schüttete ein Pfund Salz über die Dinger auf ihrem Teller.
Bestätigungen über den ach so feinen Geschmack wurden von allen Seiten gebrabbelt, so dass auch ich mich in der Pflicht sah, ein sozial verträgliches Statement abzugeben: »Ja ja, ganz wunderbar!«
Meine Nase juckte plötzlich und fing an zu laufen.
»Oooh…!«, sagte Schwiegeroma und reichte mir ein Taschentuch. Sie hielt die bei mir austretenden Flüssigkeiten doch tatsächlich für einen Ausdruck weihnachtlicher Rührung!

Schon kurze Zeit später war mein Kopf auf das Dreifache angeschwollen. Ich betrachtete mich im Badezimmerspiegel: Mein, ich nenne es mal — Gesicht wirkte wie ein weißes, pralles Kissen. Mein Mund sah aus wie ein Rettungsring… irgendwie scallopse-artig! Ich erschrak. Hinter mir standen auf einmal blasse Scallopse-Zombies! Auch bei den übrigen Familienmitgliedern zeigten sich deutlich die Auswirkungen des Giftes, das diese kleinen, unscheinbaren ›Delikatessen‹ wohl innehaben mussten.

Wir brachen schnell auf, ohne zu wissen, wohin. Es drängte uns in Richtung Meer! Ein Sturm kam auf, peitschte die salzige Gischt über das Dorf. Wir schwankten, wie durch einen Fluch belegt, mit den anderen Dorfbewohnern — Chimären aus Mensch und Scallops — durch die engen, steil aufsteigenden Straßen. Blitze durchzuckten die Nacht und schälten die windschiefen Dächer der Häuser, die sich über die Straßen wie grauenvolle Hände neigten, für Sekundenbruchteile aus den schwarzen Untiefen, den dunklen Möglichkeiten der Nacht…

In einem hellen Raum kam ich wieder zu mir. Eine Krankenschwester kontrollierte den Tropf an der Seite meines Bettes. Meine Frage erahnend, sagte sie schnell: »Lebensmittelvergiftung! Alles wieder in Ordnung! Keine Sorge.«
Ich nickte und schloss meine Augen. Da sah ich sie wieder vor mir: Die Scallopse des Grauens!
Man hätte diese schrecklichen Relikte aus grauer Vorzeit nie wecken dürfen, sie in den Tiefen des Meeres lassen müssen! Viele Bewohner Boltenhagens konnten in Krankenhäusern versorgt werden, doch die lokalen Vorräte an Antihistaminika waren schnell aufgebraucht.

So hatte sich in Boltenhagen, in Kühlungsborn, in Heiligendamm und in vielen anderen Küstenorten der ›Fluch der Scallopse‹ nach und nach ausgebreitet. Gerade heute wurde berichtet, dass in der Meerenge zwischen Helsingborg und Helsingoer seltsame Wesen beobachtet wurden. Eigentlich klingt es lächerlich… und doch! Man sagt, die Wesen hätten muschelartige Füße und Hände mit Schwimmhäuten und blasse, schwammige Köpfe. Eine Nachrichten-Kuriosität! So wurde es zumindest dargestellt. Doch spüre ich durch meine entstandenen Scallopse-Instinkte, dass es die Wesen zum Ursprung ihrer Herkunft drängt, in die tiefsten Tiefen des Meeres, hin zu den schattigen Laichplätzen unserer Vorfahren… bis… bis sich in zwei Jahren in den Tiefkühltruhen von Lidli wieder die Scallopse-Kartons stapeln. Das Grauen kommt wieder!

Text: F.A. Peters
Bild: Celina

Bücherstadt Magazin

Bücherstadt Magazin

Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

1 Kommentar

  1. Avatar

    Als bekennender Lovecraft-Fan hat mir das Lesen dieser Geschichte besonders Freude bereitet, obwohl ich anmerken muss, dass der alte H.P. weniger Humor gehabt haben muss.

    Gefällt mir ausnehmend gut.

    Antworten

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Newsletter

Erhaltet einmal im Monat News aus Bücherstadt. Mehr Informationen zum Newsletter gibt es hier.

Wir sind umgezogen!

Wir sind vor einer Weile umgezogen und müssen noch einige Kisten auspacken. Noch steht nicht alles an der richtigen Stelle. Solltet ihr etwas vermissen oder Fehler entdecken, freuen wir uns über eine Nachricht an mail@buecherstadtmagazin.de – vielen Dank!

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner