Was ist eigentlich wirklich passiert, während der 143 Minuten eines Amoklaufs in einer Schulklasse? Davon handelt Lea-Lina Oppermanns „Was wir dachten, was wir taten“. Worteweberin Annika hat das Hörbuch gehört.
Matheklausur in der Oberstufe, rauchende Köpfe im Klassenzimmer. Plötzlich ertönt eine Durchsage: „Es ist ein schwerwiegendes Sicherheitsproblem aufgetreten. Bitte bewahren Sie Ruhe.“ Von diesem Moment an ist für Fiona, Mark, ihre Mitschüler und den Lehrer Anton Filler nichts mehr wie vorher. Schließlich steht eine bewaffnete Person vor der Klasse. Der Maskierte sieht sich als Briefträger – im Gepäck hat er zehn letzte Wünsche, die jeden einzelnen im Raum an die eigenen Grenzen bringen sollen. Nach und nach kommen die Geheimnisse ans Licht, mit denen sich die Schüler und auch der Lehrer umgeben haben. Zuletzt auch das Geheimnis des Amokläufers selbst.
„Kann sein, dass es dich verändert. Kann sein, es lässt dich kalt. Kann sein, dass du schon davon gehört hast, im Fernsehen oder in den Schlagzeilen. […] Wenn ja, vergiss es, nichts davon ist wahr. Wir werden dir erzählen, was wirklich passiert ist. Wir waren dabei.“
143 Minuten – drei Perspektiven
Abwechselnd wird aus den Perspektiven von Fiona, Mark und Anton Filler erzählt: Fiona ist die Streberin, die unsterblich in Sylvester, den Klassenschönling verliebt ist. Von ihrem Platz in der ersten Reihe aus versucht sie, richtig zu handeln. Aber wie geht das? Das weiß auch der junge Lehrer Anton Filler nicht so genau. Er feilt an seiner Dissertation und trägt Schulterpolster, um Autorität auszustrahlen. Ein paar Informationen hat er zwar bekommen für den Fall eines Amoklaufs, aber er kann sich nur noch an die blondierten Haare der Fachkraft erinnern. Hilflos steht er vor der Klasse und verliert mehr und mehr Stellung und Gesicht vor seinen Schülern. Mark, der dritte Erzähler, ist ein Einzelgänger mit tiefen Augenringen, der in der Schule sehr schlecht abschneidet und den keiner so richtig zu kennen scheint. Alle drei Perspektiven sind authentisch und bieten viele Anschlussmöglichkeiten für die LeserInnen.
Im Hörbuch werden die Perspektiven durch die drei unterschiedlichen SprecherInnen deutlich, die jede/r für sich die Emotionen der eigenen Figur gekonnt transportieren. Die Situation wird so extrem anschaulich und zusätzlich spannend. Wobei die Geschichte um Fiona, Mark und die anderen auch an sich schon großes Spannungspotential hat. Nicht nur, wer eigentlich ins Klassenzimmer eingedrungen ist, möchte man unbedingt erfahren, sondern auch, welche Informationen die letzten Wünsche noch ans Tageslicht bringen werden – und wie sich die Stimmung im Klassenzimmer weiter entwickelt. Denn dass der Lehrer das Ruder nicht in der Hand hat, führt auch dazu, dass die Schüler gezwungen sind, untereinander Lösungen zu finden. In dieser Extremsituation müssen sie zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich wichtige Entscheidungen treffen.
Eine Mischung aus Lord Voldemort und James-Bond-Bösewicht?
Wie kann man den Amokläufer zu fassen bekommen? Für die ErzählerInnen ist es schon schwierig, ihn zu beschreiben. Mark vergleicht die Situation mit Erfahrungen aus Filmen und Literatur. Aber ganz wie ein Lord Voldemort oder ein Bösewicht aus den James-Bond-Filmen ist dieser Maskierte dann doch nicht. Die Angst hingegen, für die lassen sich treffende intertextuelle Vergleiche aus dem Medienrepertoire heutiger Jugendlicher finden. Die Situation der Protagonisten lässt sich so auch von LeserInnen oder ZuhörerInnen auf dem heimatlichen gemütlichen Sofa treffend nachfühlen.
„‚Immerhin hast du deine letzten Minuten nicht mit Mathe verbracht‘, dachte ich. ‚Immerhin. Und jetzt stirbst du. Mit nicht mal achtzehn Jahren. Was eine Scheiße.‘ Ich dachte nicht ‚Warum?‘ oder ‚Ich will nicht sterben!‘. Nein, mein letzter Gedanke war: ‚Was eine Scheiße.‘ Tut mir leid, dass mir nichts Originelleres einfiel.“
Die drei CDs der ungekürzten Lesung mit einer Laufzeit von ungefähr viereinhalb Stunden machen es ohne Probleme möglich, die gesamte Geschichte an einem Stück zu hören (wenn man einen freien Nachmittag finden kann). Ich jedenfalls wollte gar nicht mehr aufhören, sobald ich die erste CD eingelegt hatte.
„Was wir dachten, was wir taten“ wurde von der Jury mit dem Leipziger Lesekompass 2018 ausgezeichnet. Kein Wunder, denn die Geschichte und insbesondere die Hörbuch-Version gehen unter die Haut, holen junge RezipientInnen da ab, wo sie sich auskennen – nämlich im eigenen Klassenzimmer – und halten der modernen Gesellschaft einen Spiegel vor. Wer sind wir, wie handeln wir und was bleibt eigentlich? Der Roman eignet sich damit sowohl für den Einsatz im Unterricht als auch für eine spannende Lektüre ohne pädagogische Begleitung. Eine große Empfehlung!
Was wir dachten, was wir taten. Lea-Lina Oppermann.
Gelesen von Birthe Schnöink, Julian Greis und Sebastian Rudolph.
Hörcompany. 2017.
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