Bevor die Geschichte beginnt, möchte ich ein paar Dinge klarstellen: Figuren und die Geschichte sind frei erfunden. Wenn es zur Übereinstimmung kommt, sind diese rein zufällig. Ich distanziere mich von jeder Art von Radikalismus. Sei es Rechts oder Links.
Weihnachtsgrüße an Doris
von Sebastian Kosch
24.12.1942, Stalingrad
Meine liebe Doris, ich schicke dir ein Lebenszeichen von mir. Es ist Weihnachten, selbst in Stalingrad. Gekämpft wird trotzdem. Im Krieg gibt es keine Pause. Wir haben unser Nachtlager im Keller eines halbzerschossenen Hauses. Dort sind wir windgeschützt. Es ist so kalt in Russland. Dankbar bin ich dir für die selbstgestrickten Socken. Viele unserer Kameraden sind erfroren. Der harte Winter setzt uns zu. Wir sind dankbar für jedes Paar warme Stiefel und Kleidung, die wir finden. Die Stiefel können wir aber nur tauschen, wenn wir einen Unterschlupf gefunden haben, sonst würden uns die Zehen abfrieren.
Wir haben heute fünf unserer Kameraden verloren. Darunter den Benjamin, der Sohn des Bäckers, von dem wir immer Brot geholt haben, aus unserem Dorf. Glatter Kopfschuss und das am Weihnachtstag. Aus seiner Kehle nur ein stumpfer Laut.
Seine Hundemarke haben wir noch mitnehmen können, standen wir selbst unter starkem Beschuss.
Ich habe auch getötet, als wir unser Nachtlager eroberten. Seit ich hier stationiert bin, überkommt mich ein ständiges Zittern in den Händen. Es wird immer schwerer, genau zu zielen. Es wird auch nicht leichter, ruhig zu schlafen. Man träumt von ihren Gesichtern und Blut, dem ganzen Blut.
Auch für die Russen ist es Weihnachten. Der Mann, den ich heute tötete, gab mir mit letzter Kraft seine angefangene Zigarette. Sie schmeckte nach Frieden. Wenn ich hier rauche, vergesse ich für einen Moment, wo ich bin. Dann lässt auch das Zittern nach. Es ist komisch, im Krieg an Frieden zu denken. Zigaretten sind selten geworden. Als wir den Mann durchsuchten, fanden wir weitere Zigaretten. Diese teilten wir. Im Krieg lernt man zu teilen und zu verzichten. Das Geschenkte behandeln wir mit Anstand.
Den Alkohol brennen wir in Plastikbehältern unter unwürdigen Bedingungen. Aus allem wird Schnaps gebrannt. Alkohol wärmt uns innerlich. Die Kälte kriecht uns tief bis in die Knochen. Unsere Rationen wurden auch gekürzt. Wer aus dieser Schneehölle entkommt, darf sich glücklich schätzen. Der Krieg ist hier unmenschlich, doch viel unmenschlicher ist es, immer mehr Männer nach Russland zu schicken und sie hier kämpfen und sterben zu lassen. An der Front gibt es keine Sieger.
Durch die Straßen schallte es laut Weihnachtslieder. Man konnte es hören, als die Explosionen verstummten. An unser letztes Weihnachten erinnere ich mich gerne, meine liebe Doris.
Die Festtage zu dritt. Wie geht es unserem Sohn? Wächst er noch immer so schnell, wie du geschrieben hast? Wie sehr ich mir den Tag heransehne, an dem ich euch wieder in die Arme nehmen kann. Laut den Berichten aus Berlin sollen wir Stalingrad bald eingenommen haben.
Ich kann es kaum glauben, wie lange ich schon unterwegs bin. Es betrübt mich, wenn ich daran denke, wie lange ich Berlin nicht sehen werde. Sag mir, meine liebe Doris, würde ich es denn wieder erkennen? Ich bin mir nicht sicher. Der Krieg verändert alles.
Meine liebe Doris, meine Hoffnung, unversehrt nach Hause zu kommen, steigt von Tag zu Tag. Es vergeht kein Moment, wo ich nicht an dich denke. Unserem Sohn nur das Beste. Ich wünsche euch eine frohe Weihnacht.
Ich hab dich lieb, dein Michael.
Berlin 2012:
Ein Brief hinter Glas.
„Und das, Klasse, war ein unzugestellter Brief, zu Weihnachten 1942, aus Stalingrad.“
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