Winterzauber
Im Halbschlaf glaubte Katharina zu sehen, wie eine hellblaue, etwa handgroße Kugel ins Zimmer schwebte. Mit trägen Augen verfolgte sie, wie das wundersame Licht mal hierhin, mal dorthin huschte. Es drehte eine Runde über dem Ofen, dann strebte es mit einem Mal dem Weihnachtsbaum zu. Von einer funkelnden Kugel zur nächsten Sprang es, und dabei spiegelte sich das blaue Zauberlicht in den bunten Kugeln lustig wider.
Das Mädchen wusste nicht so recht, ob sie noch wachte oder doch schon träumte. Sie rieb sich verschlafen die Augen. Hörte sie da wirklich ein leises Kichern, ein leises Schwirren? Und wenn sie genau hinsah, konnte sie in dem hellen Glanz nicht die Silhouette eines zierlichen Wesens erkennen?
Plötzlich knarrte die Wohnzimmertüre auf und flink wie der Wind suchte das hellblaue Lichtlein am Boden zwischen den Geschenken Zuflucht. Mama trat ins Zimmer, um das Fenster zu schließen. Dann eilte sie auch schon wieder davon, um den pfeifenden Teekessel vom Herd zu nehmen.
Katharina rekelte sich noch einmal gähnend auf dem Sofa und mümmelte sich dann wieder in ihre Decke ein. Doch sie hatte kaum die Augen geschlossen, da fuhr sie entsetzt hoch. Hatte da nicht etwas geraschelt? Doch nicht etwa eine Ratte! Ratten konnte Katharina nämlich überhaupt nicht leiden. Ängstlich blickte sie sich nach allen Seiten hin um.
Es war mucksmäuschenstill im Wohnzimmer, bis auf das bedächtige Ticken der großen, alten Standuhr und das geheimnisvolle Prasseln im Ofen. Katharina wollte sich gerade wieder hinlegen, da erspähte sie aus den Augenwinkeln heraus wieder das blaue Licht. Kein Zweifel, da war etwas!
Mit einem Mal war das Mädchen hellwach. Lautlos schlüpfte sie in ihre Pantoffeln. Dann huschte sie auf leisen Sohlen auf den Weihnachtsbaum zu. Ihr Herz pochte mit jedem Schritt schneller. Behutsam langte Katharina nach dem Telefonbuch auf der Kommode, nur für den Fall. Das Buch entschlossen zum Schlag erhoben, trat Katharina hinter den Baum und erstarrte.
Das war keine Ratte und auch keine Maus. In hellen Schein gehüllt, kauerte eine zierliche Gestalt zwischen den Geschenken. Ein kleines Fräulein mit schimmernden Flügeln – die Haut – blau wie der Himmel, lange Haare – weiß wie Schnee. Auch ihre zierliche Pelzmütze, die Stiefelchen und das wunderbare Kleid waren ganz und gar weiß. Als es jedoch das Menschenkind erblickte, schrie das Wesen entsetzt auf: „Bitte tu mir nichts! Ich flehe dich an! Hab erbarmen!“
Behutsam kniete sich das Menschenkind hin, ganz langsam, um das zierliche Wunderwesen ja nicht zu erschrecken. „Du brauchst dich nicht zu fürchten“, hauchte Katharina besänftigend. „Ich tu dir bestimmt nichts.“
Misstrauisch beäugte das Flügelwesen das staunende Menschenkind. Schließlich strich sich das blaue Fräulein verlegen eine weiße Locke aus der Stirn und begann ihr vom Nachtwind zerzaustes Kleid zu glätten.
Katharina sah ihr dabei mit großen Augen zu. „Wer bist du?“ wollte das Mädchen schließlich wissen.
Das zierliche Wesen hielt inne, musterte das neugierige Menschenkind kurz und machte dann eine eleganten Verbeugung: „Ich bin eine Frostelfe im Dienste ihrer Majestät, der Schneekönigin.“
„Ich bin Katharina“, stellte sich das Menschenkind vor. Just in diesem Moment schlug die Pendeluhr die achte Abendstunde. Wie erschrak da die Frostelfe! Die zierlichen Hände auf die spitzen Ohren gepresst verkroch sie sich sogleich unter einem Tannenzweig.
„Keine Angst“, versuchte Katharina sie zu besänftigen. „Das ist nur die Uhr. Die tut dir nichts zu leide.“
„Ha, dass ich nicht lache“, entgegnete die Elfe aus ihrem Versteck heraus. „Mein Verderben ist sie! Hast du denn nicht gehört – es ist schon acht Uhr!“
„Ja und?“ fragte Katharina verwirrt.
Da kroch die Elfe aus ihrem Versteck heraus, baute sich vor Katharina auf und schnaubte empört: „In vier Stunden ist Mitternacht!“
Katharina zuckte nur mit den Schultern: „Ja und?“
„Weißt du denn nicht, was das bedeutet? Die Schneekönigin gibt ihren jährlichen Winterball!“
„Oh wie schön!“
„Nein, ganz im Gegenteil. Eine Katastrophe!“, jammerte die Frostelfe und brach in Tränen aus. „Siehst du hier auch nur eine einzige Eisblume, eine einzige Schneeflocke? Spürst du auch nur einen einzigen Hauch von Winterzauber?“
Katharina schüttelte stumm den Kopf. Der Winter ließ dieses Jahr wirklich lange auf sich warten.
„Bis Mitternacht muss alles vorbereitet sein“, schluchzte die Frostelfe. „Dann wird die Schneekönigin nämlich in ihrem Schlitten zum Auftakt des Abends über den Himmel gleiten. Und alle Dörfer, alle Städte auf der Route müssen bis dahin im Glanz des Winters erstrahlen! Und überall sollen Eisblumen sprießen. Wenn nicht, dann-“
„Bis Mitternacht ist noch viel Zeit“, versuchte Katharina das Zauberwesen zu trösten, doch die Elfe schüttelte energisch den Kopf: „Der Boden in dieser Stadt ist schon gefroren. Wie soll ich da noch den Samen für die Eispflanzen säen? Ach, was haben diese blöden Herbstelfen dies Jahr doch geschludert! Warum haben sie mich nicht eher geweckt? Diese Stümper! Gemeines, unzuverlässige Pack!“
Katharina kaute einen Moment lang nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. Dann hellte sich ihre Miene auf und mit verschwörerischer Stimme raunte sie der Frostelfe zwinkernd zu: „Komm mit! Ich weiß schon, wo wir lockere Erde für deine Eisblumen finden.“
Leise, sehr leise zog Katharina die Wohnzimmertür auf und trat auf den Gang hinaus. Sie spähte kurz in Richtung Küche, dann pirschte sie sich ungesehen, ungehört um die Ecke, hin zur Kellertür. Beim Aufziehen quietschte das alte Ding verräterisch, doch zum Glück hatte Mutter das Radio so laut eingestellt, dass sie von alledem nichts mitbekam.
Drunten im muffigen Keller angekommen, nahm Katharina rasch einen leeren Topf und eine Schaufel zur Hand. Staunend beobachtete die Frostelfe, wie das Menschenkind aus einem Plastiksack lockere Blumenerde hervorzauberte. Katharina hatte den Blumentopf kaum gefüllt, da zog ihr die Elfe auch schon energisch an den Zöpfen. „Los“, drängelte das Zauberwesen aufgeregt. „Wir müssen nach draußen ins Mondlicht! Ohne Mondlicht keine Eisblumen!“
Hurtig und geschwind eilten die beiden zurück ins Wohnzimmer. Katharina setzte ihre Ohrschützer auf und warf sich noch rasch eine Decke über, bevor sie auf den Balkon hinaustrat. „Und jetzt?“, wollte das Kind wissen, als sie den Blumentopf auf dem kleinen Balkontisch abstellte.
„Pass auf“, raunte die Frostelfe ihr ins Ohr. Sogleich langte die Elfe in ihre Tasche und zog einen kleinen, nahezu durchsichtigen Gegenstand hervor. Flink steckte sie das Kristallding in die Blumentopferde. Dann schwebte die Elfe ein paar Mal im Kreis darüber und flüsterte unverständliche, mystisch-magische Elfenworte.
Ein Knistern lag in der Luft, ein kalter Duft. Im nächsten Moment schon brach die Erde auf und heraus streckte sich die erste Eisblume. Ihr Stängel – so durchsichtig wie feinster Bergkristall. Ihr Blütenkopf – ein filigraner Eiskristall. Wie wunderschön war ihr wundersames Wachsen anzusehen! Katharina staunte nicht schlecht. Doch mit einem Mal hieb die Frostelfe wild mit dem Zauberstab auf die Blume ein, dass die Splitter nach allen Seiten hin flogen.
„Nein, nicht, was tust du denn?“, rief Katharina erschrocken. Doch die Frostelfe lachte nur vergnügt. Denn überall wo ein Splitter niederging, wuchsen sogleich ein Dutzend weitere Eisblumen. Eine einsame Schneeflocke trieb vom nachtschwarzen Himmel herab. Dann noch eine und noch eine. Ein ganzes Heer.
„Ja, so lässt sich arbeiten!“, jauchzte die Frostelfe triumphierend. Lachend trieb sie die Saat des Winters hierhin und dorthin. So ritt sie auf dem Wind davon, ohne sich ein einziges Mal umzublicken. Aber Katharina war ihr deshalb nicht böse. Denn die Elfe hatte ihr doch das schönste Geschenk gemacht, das ein Kind sich nur wünschen konnte: eine weiße Weihnacht.
Text & Bild: Christine Prinz
Kurzvita
Christine Prinz, *1986 in Österreich, zeichnet und schreibt seit sie einen Stift halten kann. Während ihres Studiums veröffentlichte sie mehrere englischsprachige Texte im Studentenmagazin JAWS und eine Geschichte in der Anthologie The Lounge Companion Vol.1. Ende 2013 fing sie wieder an, Kurzgeschichten zu schreiben. Diesmal auf Deutsch.
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