#21. Türchen

von | 21.12.2015 | #litkalender, Kreativlabor

269 Bowery1

269 Bowery

Im Dezember 1973 war die Kälte in New York allgegenwärtig – wie ein hinterhältiger Eindringling hatte sie Besitz von der Stadt ergriffen. Sie fegte als eisiger Wind durch die Straßen, sie kroch durch die Ritzen in den Wohnungen und gleich, wie warm man auch angezogen war, ließ sie die Knochen unter der Kleidung porös werden. Für mich war es ein besonderes Jahr, denn es war das erste Jahr, in dem ich fern meiner Heimat auf eigenen Füßen stehen musste. Eine feindselig gestimmte Stadt empfing mich, grau und ausgestorben. Der gefrorene Schneematsch knirschte unter meinen Schuhen und ließ mich unwillkürlich an das Geräusch mahlender Zähne denken. Es war so bitterkalt, dass selbst meine Gedanken einzufrieren drohten.

Alle Straßen in Manhattan südlich der 14. wurden von zwielichtigen Gestalten am Rande der Gesellschaft bevölkert, von Dealern und Junkies, Nutten, Transvestiten, Strichern und Kriminellen – und seit heute auch von mir. Noch südlicher, im Financial District, liefen weitaus mehr Verbrecher durch die Straßen. Sie kleideten sich nur anders als wir, die Bewohner der Bowery. Meine neue Wohnung passte in diese heruntergekommene Kulisse. Sie lag über einem leerstehenden Geschäft, in dessen Schaufenster ein handgeschriebenes Schild For sale verkündete, und bestand aus einem Zimmer mit Küchennische. Ein Bad gab es nicht. Auf den Oberflächen der spärlichen Möblierung klebte eine schmierige Schmutzschicht, die jedem Putzmittel standhielt. Drinnen war es kaum wärmer als draußen. Ich stopfte alte Socken und Tücher in die offenen Löcher am Boden, um die Kälte ein wenig auszusperren, während sich über meinem Kopf das Unwetter zusammenbraute.
Und dann fing ich an zu malen. Wie im Delirium bearbeitete ich Leinwände, Skizzenblöcke, selbst die nackten Wände der Wohnung. Ich ging nicht vor die Tür, aß kaum noch und fuhr nachts von Albträumen gequält aus meinem Schlaf hoch. Mein bestes Werk war eine zwei auf zwei Meter große Leinwand, die ich mit kräftigen Farben bearbeitete. Rot, Blau, Grün und Gelb gingen in wilden Formationen in ein harmonisches Gemälde auf. Während der Schneesturm vor meinem Fenster tobte, saß ich vor dem Bild und betrachtete, wie es langsam in der feuchten Luft trocknete. Dann griff ich nach dem schwarzen Farbeimer und übermalte die Farben, bis keine einzige bunte Stelle mehr zu erkennen war. Durch diese Zerstörung gewann das Gemälde an neuer Intensität, einer ungeahnten Tiefe. Eine weiße Leinwand schwarz zu malen hätte niemals die gleiche Kraft besessen. Ich war zufrieden.

In meiner Bleibe wurde es immer kälter. Ich setzte mich vor die offene Ofenklappe, um ein wenig Wärme abzubekommen. Meine Bleistiftzeichnungen musste ich aufgeben, da ich ohne Handschuhe nicht mehr arbeiten konnte. Auch meine anderen Werke wurden schwächer und verloren an ihrer Potenz. Nach und nach ging mir die Inspiration aus. Trotz des beißenden Winters lief ich in ruhelosen Nächten immer öfter durch die Straßen Manhattans, die verlassen vor mir lagen. Selbst die hartgesottenen Lower East Sider mieden es, bei dem Wetter aus ihren Löchern hervorzukriechen. Nur die Prostituierten arbeiteten ständig. Ich hörte ihnen beim Streiten zu, wenn ich mich auf meiner fleckigen Matratze hin- und herwälzte. Nach mehreren Wochen in der Stadt betrat ich zum ersten Mal eine Telefonzelle und rief meine Eltern an. Das Gespräch war kurz. Der Hörer drohte, an meinem Ohr festzufrieren – oder bildete ich mir das nur ein? – und ich beendete das Telefonat, um unsteten Schritts nach Hause zu eilen.
Weder die Kälte noch die Einsamkeit hatten bisher meine Seele berührt. An Heiligabend änderte sich das schlagartig. Mich überkam eine Traurigkeit, auf die ich nicht vorbereitet war, eine Traurigkeit, die sich wie eine eiserne Rüstung um mich legte. Die Kälte gab den Bewohnern New Yorks keine Verschnaufpause, auch tagsüber war der Himmel bedeckt und dunkel. Trotzdem ließ ich mich am 24. durch die Stadt treiben. Ziellos lief ich durch Midtown und schließlich hoch zur Upper East Side, wo ich die Reichen beobachten wollte und doch nur Dienstpersonal sah, das für letzte Weihnachtseinkäufe und Geschäft zu Geschäft hetzte.
Vor dem Eingang eines teuren Kaufhauses wünschte ein Weihnachtsmann den Passanten frohe Feiertage. Ich verspürte einen Anflug von Mitleid für den Mann, aber wahrscheinlich war ihm in seinem Kostüm wärmer als mir. In den noblen Wohnvierteln in Laufweite zum Central Park versuchte ich, in die hell erleuchteten Fenster zu schauen. Ich stellte mir dahinter glückliche Familien vor und dachte vor allem an die Kinder, die ihre Geschenke erwartend in dieser Nacht kaum schlafen würden.

Ausgelaugt von dem Spaziergang betrat ich die Metro, um zurück in mein ungleich schäbigeres Viertel zu fahren, in dem mich außer meinen alten Gemälden und den ausbleibenden Ideen nichts erwartete. In Gedanken verloren stieg ich aus der Bahn. In der Station flackerten vereinzelte Neonlichter. Ein abgemagerter Puerto Ricaner, kaum dem Teenageralter entwachsen, lungerte am Ausgang und bot mir unversehens Heroin an. Ich starrte ihn einen Moment lang entgeistert an und wollte dann weiterlaufen, doch so leicht ließ er sich nicht abwimmeln. Du siehst einsam aus, sagte er. Ich kann dir helfen. Ich mache dir auch einen guten Preis, ist ja Weihnachten.
Ich dachte an mein tristes Zuhause, in dem mich nichts und niemand erwartete, in dem ich bloß an die Sinnlosigkeit meines Seins erinnert würde. Die Einsamkeit wirkte wie ein schleichendes Gift, das meine Seele Stück um Stück zersetzte. Ich war wehrlos. Der Junge erkannte mein Zögern und sagte, komm‘ mit, du kannst immer noch nein sagen. Wie ein Lämmchen folgte ich ihm durch die Gassen, trottete schweigend hinter ihm her, bis wir in einen Hinterhof kamen.
Der Schnee ließ Müllberge erahnen, hatte unangenehme Gerüche aber neutralisiert. Im Hinterhof stiegen wir in ein Kellergewölbe hinab, in dem sich ein Dealer vor mir aufbaute. Er wog gut und gerne das Doppelte des schmächtigen Jungen. Der Puerto Ricaner war in der Dunkelheit verschwunden. Der Dealer taxierte mich mit einem abschätzigen Blick, der eine sarkastische Note annahm, als ich stotternd eine schwindend geringe Menge Heroin kaufte. Hast aber einiges vor heute, sagte er und lachte rau. Ich machte, dass ich wegkam.

Zu Hause beäugte ich das Tütchen. Heroin gehörte wahrlich nicht zu meinen bevorzugten Drogen. Zur Hölle, ich hatte sogar Angst vor Nadeln! Aber alle nahmen es, die Kids auf der Straße, die Musiker, die Künstler. Es war keine große Sache. Mit meinem Zeigefinger tippte ich vorsichtig in das Zellophan und leckte die Fingerspitze ab. Es schmeckte scheußlich. Ein taubes Gefühl machte sich in meinem Mund breit, das nicht unangenehm war. Eine erneute Fingerspitze und dann beschloss ich, das Pulver wie in den Filmen durch die Nase einzunehmen.
…Eine Hitzewelle, gepaart mit einem tiefen Glücksgefühl, breitete sich blitzartig in mir aus und schwappte über den Rand meines Bewusstseins. Plutonium pulsiert in meinen Venen. Ich glühte, verglühte, wann war mir das letzte Mal so heiß gewesen? Und das Glück! Das Glück! In meinem ganzen Leben hatte ich nie ein solches Glück empfunden! Die Welt war wunderschön und voller Liebe. Ich löste meinen Schal und warf Jacke und Mütze zu Boden. Ich fühlte mich frei. Ich nahm noch eine Brise und noch eine und die Gefühle intensivierten sich. Meine Seele leuchtete auf und übertrug die Hitze auf meinen Körper. Ich befreite mich von meinen Klamotten und legte mich auf die Matratze, die Arme weit ausgebreitet. Das Leben überwältigte mich, am liebsten hätte ich die ganze Welt umarmt.

Mehrere Wochen später wurde die Tür von Frank Witters Wohnung gewaltsam aufgebrochen. Alarmiert über die Funkstille ihres Sohns hatten Franks Eltern die Polizei verständigt. In der Wohnung war es eiskalt. Schon vor langem hatten sich die Ratten durch die Tücher gefressen, mit denen Frank die Löcher in den Leisten gestopft hatte. Beim Eintreten bot sich den Beamten ein bizarres Bild: Nur in Unterhose bekleidet lag die tiefgefrorene Leiche eines jungen Manns auf der Matratze. Frank Witter hatte den rechten Fuß über den linken gelegt und beide Arme im rechten Winkel von sich gestreckt. In seinem Gesicht zeigte sich noch immer die göttliche Verzückung. Der sieht aus wie Jesus, murmelte einer der Polizisten. Nur der Dornenkranz fehlt.

Text und Bild: Isabella Caldart

Kurzvita:

Isabella Caldart verfasst Artikel und Kritiken für das Journal Frankfurt und diverse Onlinemagazine, ihre wahre Leidenschaft aber gilt fiktionalen Texten. Obwohl sie mehrfach im Ausland gelebt hat, zieht es sie immer wieder in ihre Heimatstadt Frankfurt zurück. Die Kurzgeschichte „269 Bowery“ entstand während eines Aufenthalts in New York. Mehr unter www.isabellacaldart.de.

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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