Der Film „22 Bahnen“ ist die Filmadaption des gleichnamigen Debütromans von Caroline Wahl, der 2023 erschien und schnell zum Erfolg wurde. Nun, rund 2 Jahre später, kommt die Buchverfilmung in die Kinos. Mit der Erwartung der Lesenden steigt die Spannung auf die Umsetzung der Geschichte, findet Bücherstädterin Alica.
„Ida und ich. Wir beide sind jeweils ein fester Teil. Die Hälfte von einem Ganzen.“
Die Geschichte handelt von der Hauptfigur Tilda (Luna Wedler) und ihrer kleinen Schwester Ida (Zoe Baier). In einer Kleinstadt wohnen sie zusammen mit ihrer alkoholkranken Mutter in einer Wohnung. Dabei übernimmt Tilda die Verantwortung für ihre kleine Schwester und arbeitet, neben ihrem Masterstudium in Mathematik, an der Supermarktkasse. Sie geht fast jeden Tag ins Schwimmbad, um ihre 22 Bahnen zu ziehen – eine Zeit nur für sich. Als dann der stille Viktor (Jannis Niewöhner) ins Bild tritt, verändern sich die Dinge und nicht nur ihre Situation zu Hause nimmt Fahrt auf, sondern auch ihre Vergangenheit holt sie ein.
Triggerwarnung: Häusliche Gewalt, Sucht
Filmische Perspektiven: Wie schauen wir?
Die mit der Constantin Film Produktion entstandene Buchverfilmung wirkt durch Struktur, Aufbau und Bildkomposition fast schon wie ein Arthouse Film und führt das Publikum auf unterschiedlichen Ebenen in die Welt von Tilda ein.
Das Drama entstand unter der Regie von Mia Maariel Meyer und das Drehbuch wurde von Elena Hell konzipiert. Das Filmerlebnis stellt für mich einen Versuch dar, die Sehgewohnheiten des “Male gaze”, eine Filmtheorie von Laura Mulvey, aufbrechen zu wollen. Dieser Entwurf strebt an, die Darstellung aus der männlichen Perspektive umzuschreiben und alte Muster zu lösen. Das funktioniert beispielsweise durch die unterschiedlichen Detailaufnahmen, die Dialogformen oder auch das Kostüm.
Was ich anschließend an der Inszenierung als gelungen empfinde, ist die Figurenkonstellation zwischen den Schwestern. Die Liebe und Verbundenheit, die sie trotz der schwierigen Umstände entwickelt haben, sind spürbar. Sie schaffen sich einen friedvollen Ort, in dem sie existieren können. Die sorgenden Gefühle der großen Schwester verschwimmen dabei oft mit mütterlichen Verhaltensweisen. Interessant wäre für mich außerdem gewesen, die Beziehungsdynamik zwischen Tilda und ihrer besten Freundin stärker im Zusammenhang mit den Rückblenden und der Rolle von Viktors Bruder zu beleuchten und demnach der Freundinnenschaft ebenso mehr Raum zu geben.
Zwischen fragmentierter Erzählung und neuen Nuancen
Der Film bietet viele Erzählstränge, die geöffnet wurden und zum Nachdenken anregen, jedoch wirkt es beim Schauen so, als hätte man möglichst viele Ebenen einbringen wollen und diese nicht zu Ende geführt. Die einzelnen Plots geben schon viel Material zum Wirken – vielleicht besteht aber auch in dem Gefühl des „Nicht-zu-Ende-Bringens“ ein stilistisches Mittel, das sich nicht unbedingt mit dem Anspruch auf Vollständigkeit vertragen muss.
Dass die Dialoge bündig und kurz gehalten sind, spielt potenziell auch in die undurchsichtige Rezeption mit hinein. Zwischen Viktor und Tilda bahnt sich eine romantische Beziehungsebene an. Durch schlagfertige Wortwechsel lernen wir die beiden kennen. Diese Kürze im Dialog verrät uns hier nicht viel mehr über die Gefühle und das Kennenlernen der Figuren und um Einblicke in die Gedankenwelt der Hauptfigur Tilda zu bekommen, begleitet sie uns mit O-Tönen durch den Film. Zudem verraten uns die wiederkehrenden Rückblenden von vor fünf Jahren mehr über Verhaltensweisen und Konsequenzen in der gegenwärtigen Handlung.
Persönlich habe ich das Hörbuch gehört und möchte keinen genauen Vergleich von Roman und Verfilmung ziehen – jedoch habe ich den Film insgesamt als schönes Kinoerlebnis empfunden. In seiner Erzählweise spielt die Darstellung irgendwie mit dem Gefühl von Unvollständigkeit, was sich aber auch stilistisch gut übersetzen lässt: der Verlauf des Lebens, Hürden, Chaos und Entscheidungen, die zu treffen sind – ein wenig so, als würde man Kopfkino betreiben. Dennoch wirkte er genau dadurch in der deutschen Filmszene recht neu. Mit deutschen Filmproduktionen verbinde ich oftmals eher auserzählte Handlungsstränge mit einer vorhersehbaren Wendung und schließlich einem Happy End. Auch bemerkenswert ist unter anderem der Abspann. Dieser gestaltet sich in seiner Ausführlichkeit und nennt Stellen wie die Praktikant:innen, was ich persönlich sonst noch nie im Abspann gesehen habe und als positive, moderne und wichtige Gestaltung empfinde.
Wie lässt sich der Umgang mit schwerwiegenden Themen finden?
Kritisch zu betrachten ist die Beleuchtung der Sucht, des Alkoholismus und der häuslichen Gewalt. Hier schließt sich der Aspekt der Unvollständigkeit an – dadurch, dass es so viele Handlungen gibt, kommt der Tiefgang und die Schwere der Thematik ein wenig zu kurz und es werden unter anderem auch ein paar Stereotype bedient, wie der Supermarktkassenjob von Tilda, der dann als Indiz für Armut gelten soll.
Für mich wirkt die Darstellung daher immer noch ein wenig zu poliert für die Ereignisse, die szenisch dargestellt werden, und es könnte eine Schärfe fehlen, um Oberflächlichkeit zu verringern und gleichzeitig eine leichte Vermittlung für ein breites Publikum zu konstruieren, aber auch, um dem tatsächlichen Schweregrad der Thematik gerecht zu werden und Stereotype nicht zu reproduzieren.
Die Literaturverfilmung wurde für mich auf jeden Fall durch die Kameraführung und -perspektiven geprägt: die Betrachtungsebene durch Detailaufnahmen, wiederkehrende Motive durch Requisiten in der Handlung und der Soundtrack – die Songs sind unter anderem teilweise einem gewissen Bekanntheitsgrad zugeschrieben, was mir und dem breiten Publikum potenziell eine weitere Form von Einfühlvermögen und Vertrautheit bieten kann. Ebenso fangen Kostümwahl und Ausstattung, wie Handy oder Haarschmuck, die Modernität der 2010er Jahre ein und brachten mich zum Zurückerinnern an vergangene Zeiten.
Für mich definitiv sehenswert – gerade auch nach dem Lesen oder Hören des Romans, da der Film Setting und Figuren unterstreicht!
22 Bahnen. Mia Maariel Meyer. Elena Hell. Luna Wedler. Jannis Niewöhner. Laura Tonke. Sabrina Schieder. Laura Tonke. Zoë Baier. Luis Pintsch. Ercan Karacayli. Edith Konrath. Berke Cetin. Hannah-Chioma Ekezie. Atabey Chiriac. Zoe Fürmann. Kosmas Schmidt. Bayern. Berlin. Constantin Film. 2025. Copyright Bild: Constantin Film Verleih / Gordon Timpen.



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