Matuschek lebt bei Mama. Die macht ihm Essen, bezahlt seine Rechnungen und sorgt dafür, dass alles seine Ordnung hat. Ganz einfach also. Was aber, wenn Mama stirbt? In „Nach Onkalo“ von Kerstin Preiwuß hat Worteweberin Annika mehr erfahren.
Irgendwo in der ostdeutschen Provinz züchtet der vierzigjährige Matuschek Tauben und beobachtet auf dem Flughafen das Wetter. Zuhause wartet seine Mutter auf ihn. Doch eines Morgens kommt sie einfach nicht mehr aus dem Bett – tot. Eine andere Frau ist nicht in Sicht, denn so richtig gut kann der Junggeselle nur mit seinen Tauben umgehen. Zum Glück gibt es die Nachbarn, den Russen Igor und den Rentner Witt, die dem Hilflosen unter die Arme greifen. Alles scheint gut zu laufen: Matuschek bandelt mit Igors Schwägerin Irina an und hat fortan eine Zukunft. Die aber rückt bald wieder in weite Ferne, und so muss sich Matuschek ohne Irina und Igor durchschlagen. Alkohol und angeln regieren von nun an sein Leben, sogar die Tauben vergisst er. Matuschek stürzt ab, würde am liebsten sterben und ist auch nicht mehr weit entfernt davon. Ob er es noch schafft?
Ein Taubenzüchter und die Provinz
Die Leser begleiten Matuschek dabei, wie er strauchelt, neue Wege einschlägt, den Boden unter den Füßen verliert, manchmal doch wieder aufsteht. Kerstin Preiwuß zeichnet ein deutliches Bild ihres Protagonisten. Sie stellt weder bloß, noch weckt sie Mitleid mit dem aufgeschmissenen Taubenzüchter, macht die Leser nur zu Beobachtern eines Ausschnittes aus Matuscheks Leben. Wenn man so möchte, dann ist das ein Absturz, aber die Gründe dafür sind zumindest nachvollziehbar:
„Fetzen von früher blitzen auf wie Splitter, die man sich holt. Nicht der Rede wert, man stirbt nicht dran, muss nicht mal zum Arzt, aber es puckert ständig vor sich hin, und der Schmerz macht, dass man die Hand nicht mehr so einsetzen kann wie sonst. […] Es gibt Wege, die dorthin führen, wo er jetzt ist, also gibt es auch Gründe dafür.“ (S. 186)
Matuschek ist eng verbunden mit seiner Heimat, der Provinz. Weg, wie so viele andere, möchte er nicht. Hier gibt es schon lange keine Polizei mehr, und bald vermutlich nicht mal Taubenzüchter. Doch es scheint Auswege zu geben: Für Matuschek ist es die Arbeit, die er schließlich beim Abbau eines Atommeilers findet. Für die Provinz könnten es die Künstler aus der Großstadt sein, die hier Familienglück und Abgeschiedenheit finden.
Ein rätselhafter Titel
Und Onkalo? Rätselhaft klingt er, der Titel des Romans. Ein Ort, soviel scheint schon mal sicher, vielleicht irgendwo auf dem Land, wo man angeln kann? Das Titelbild zumindest legt das nahe. Tatsächlich aber ist Onkalo, auch Olkiluoto genannt, ein finnisches Atom-Endlager. Eine Höhle, die für die Ewigkeit Bestand haben soll – ganz anders also, als Matuscheks Leben, der im Angesicht des Abgrundes darüber sinniert, dass mit ihm so viele Erinnerungen verloren gehen werden – auch an seine Mutter und den Nachbarn Witt. Ob es nicht vielleicht besser so ist? Es sind so auch Fragen danach, was von uns eigentlich bleibt, die Kerstin Preiwuß in ihrem Roman stellt, genauso wie danach, wofür es sich eigentlich zu leben lohnt.
„Nach Onkalo“ ist ein kleiner Roman der großen Fragen, sprachlich präzise und fein. Nicht umsonst steht Kerstin Preiwuß damit auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2017.
Nach Onkalo. Kerstin Preiwuß. Berlin Verlag. 2017.
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