Die Weihnachtsgaben
Es war einmal eine kleine Stadt, wie es viele andere gibt, doch für seine Bewohner war es die schönste Stadt der Welt. Es gab arme und reiche, gute und schlechte Menschen. Es gab Bürger, die sich liebten, und Bürger, die sich hassten. Das ist so in jeder Stadt der Welt und wenn wir Glück haben, sind die Geheimnisse unserer eigenen Stadt hell und liebevoll und nicht dunkel.
Das einzig Besondere an dem Örtchen, von dem unsere Geschichte handelt, war sein Weihnachtsgeist. Obschon in dieser Stadt die Weihnachtszeit gern und schmuckvoll gefeiert wurde, ist mit Weihnachtsgeist nicht die Stimmung gemeint, die uns befällt, wenn wir Kerzenlicht sehen und Gebäck riechen. Nein, hier gab es einen wirklichen und wahrhaftigen Geist, der stets zur Weihnachtszeit erschien. Er hatte die Gestalt eines kleinen Mädchens, so arm, dass es nur in ein zerrissenes Kleidchen gehüllt war und mit dem Licht eines Kerzenstummels seinen Weg fand. Seine kleinen Füße schwebten immerzu über dem Schnee.
In dieser Art begab es sich zu jeder Adventszeit zwischen die Menschen, welche sich über die Jahre an die Erscheinung gewöhnt hatten. Bemerkte der Weihnachtsgeist, dass unter den Menschen einer war, den die Ärgernisse der Vorbereitungen des Festes aufwühlten, der ob der Vielzahl der Eindrücke nicht mehr zu sich finden konnte, so nahm er alle Hektik von ihm und schenkte ihm innere Ruhe. Das Aufgewühltsein reichte er weiter an jemanden, der nicht mehr die Kraft hatte, sich der Welt zu stellen, der sich in seinem Haus verkroch. So fasste dieser neuen Mut und er fand neue Momente unter anderen Menschen.
Und sah der Geist der Weihnacht ein Herz, welches verbittert war und keine Liebe in sich trug, so weckte er die Erinnerungen an vergessene teure Menschen, an Stunden unter den Sternen und den Blick durch das grüne Blätterdach des Sommerwaldes. Somit entflammte der kleine Funke der Liebe, der sich in jedem Herzen findet, zu neuem Feuer und vertrieb die Finsternis.
Fielen jedoch Tränen in den Schnee oder gefroren in der kalten Luft, war eine Seele zu voll mit Gefühl und Leid, so schenkte der Geist Trost und nahm die Traurigkeit von den Betroffenen. Diese Flut der Tränen reichte der Weihnachtsgeist an einen anderen, der sein Inneres durch eine Mauer schützen wollte, der keine Verletzlichkeit zuließ und alte Wunden mit Narben der Ablehnung geschlossen hatte. Die Tränen wuschen alle Befestigungen fort, sodass das Herz wieder frei, voller Mitgefühl und geheilt schlagen konnte – für sich selbst und für andere.
So achteten die Menschen der Stadt einander immer mehr und feierten Weihnachten voller Liebe und gegenseitiger Rücksicht. Über die Jahre bemerkten sie, dass sie selbst die Macht hatten, Menschen in ihre sorgende Mitte zu holen und der Weihnachtsgeist ward immer seltener gesehen. Allein die Liebe der Menschen blieb.
Irgendwann war der Geist des Mädchens nur noch Erinnerung, bald Legende und es wurde gesagt, er würde an einem anderen Ort seinen freundlichen Dienst tun und den Menschen alles Trennende nehmen, zu jeder Weihnachtszeit.
Frederik Elting
Über den Autor:
Ich wurde am 29.03.1980 in Bocholt geboren. Nach der Arbeit in einem großen Industrieunternehmen und der Bundeswehrzeit als Sanitäter studierte ich Medizin und Geschichte in Münster. 2015 begann ich, mich an literarischen Ausschreibungen zu beteiligen und habe mit Kurzgeschichten, Lyrik und Aphorismen Veröffentlichungen in Anthologien und gute Platzierungen in Wettbewerben erreicht. Ich beschäftige mich in meiner Freizeit gern mit Kursen an einer Online-Uni und Rugby (leider nicht mehr als aktiver Spieler).
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