Die Krippe
Harry stand vor dem niedrigen Schrank im Wohnzimmer seines Freundes und betrachtete ihn neugierig. Über die ganze Oberfläche verteilt, standen die unterschiedlichsten Figuren in und um ein offenes Viereck aus Legosteinen.
„Ben, was ist das?“, fragte er nach einem Moment.
„Meine Krippe. Ist doch Weihnachten“, antwortete Ben selbstverständlich und stellte sich neben ihn.
„Deine Krippe. Aus Lego?“
„Ja. Eine kaufen ist langweilig, also hab ich eine selbst zusammengestellt“, offenbarte Ben mit einem breiten Grinsen.
„Das seh‘ ich.“ Skeptisch nahm Harry die kleine Figur von einem runzligen, langohrigen Koboldwesen hervor. „Du weißt schon, dass es Baby-Jesus heißt und nicht Baby-Yoda?“
„Ja, und? Das ist meine kleinste Figur.“ Ben zuckte lediglich mit den Schultern und schob seine Hände in die Hosentaschen.
„Okay…“ Vorsichtig legte Harry die Yoda-Figur zurück in den umfunktionierten Futtertrog aus Toilettenrollen und deutete anschließend auf eine rot-schwarz gekleidete, schwer bewaffnete sowie eine bullige, grüne Figur direkt daneben: „Heißt das, Deadpool und Hulk sind Maria und Joseph?“
„Klar. Der eine ist runzlig, der andere grün. Passt doch“, bestätigte Ben strahlend.
„Wenn du das sagst…“ Ungläubig schüttelte Harry den Kopf und ließ seinen Blick weiter über die Krippe schweifen.
Anstatt Esel und Ochse beherbergte das Innere des breiten Legogebildes ein tiefschwarzes Auto mit flügelähnlichen Spoilern und ein weißer Kombi mit einem durchgestrichenen Geist auf der Tür. Zur Linken der eigentlichen Krippenszene füllte die Schafherde die restliche Schrankoberfläche aus. Sie bestand aus verschieden großen, meist bronzefarbenen, Pfefferstreuerähnlichen Robotern, die von mehreren Metallmännern mit Strohhalmen als Hirtenstäben bewacht wurden.
Ben war seinem Blick gefolgt und rechtfertigte sich: „Ich weiß, eigentlich müsste es andersherum sein, aber meine Daleks sind halt kleiner und passen besser als Schafe.“
„Natürlich, das ist vollkommen logisch“, seufzte Harry resigniert. Mit einem Blick nach rechts fragte er: „Und der Doctor, Superman und DARTH VADER sind die drei Weisen aus dem Morgenland?“
„Jup. Die sagen doch immer, einer davon war schwarz.“
Einen Moment haderte Harry mit sich, dann korrigierte er: „Schwarz: ja; Massenmörder: nein. Du hättest Batman nehmen können, dann wären es zumindest alles Helden.“
„Aber ich hab doch schon das Batmobil als Esel!“, protestierte Ben.
„Natürlich. Das würde ja nicht passen.“
„Genau.“
Für einen Moment schwiegen sie, dann entdecke Harry eine kleine, beflügelte, pupillenlose Figur auf dem spitz zulaufenden Dach des Gebäudes.
„Und wer ist das?“, fragte er und drehte die Figur hin und her.
„Na, der Erzengel Gabriel“, sagte Ben nur. Als sein Freund ihn noch immer verwirrt anschaute, fügte er hinzu: „Aus Supernatural.“
„Das guckst du?“
„Nein, die Figur hatte ich mal in ’ner Merch-Box. Aber es passt doch? Gabriel war doch derjenige, der das ganze verkündet hat oder nicht?“
„Das ist vermutlich der einzige Teil der Krippe, der tatsächlich Sinn ergibt“, befand Harry mit einem erneuten Seufzen.
„Ach komm, gib’s zu: Das ist die beste Krippe, die du je gesehen hast!“, forderte Ben ihn auf.
Die Autorin:
Neben dem Bloggen über verschiedenste Themen (z.B. Film/Buch & Konzert/Festival Reviews) auf ihrem Blog www.randompoison.com, veröffentlicht PoiSonPaiNter / Anne Zandt auch (Kurz-)Geschichten, die meist der Phantastik zuzuordnen sind. Gelegentlich trägt sie ein paar davon auf einer Lesebühne vor. Zurzeit bangt sie mit ihren Lesern in ihrem diesjährigen zweisprachigen Adventskalender – eine Wähl-dein-eigenes-Abenteuer-Geschichte. Hier findet ihr die englische Version des Textes „Die Krippe“.
DIE BESTE KRIPPE, die ich je gelesen habe. Danke!
(3/4 der Geschichte dachte ich allerdings, dass Harry Bens Vater ist.)
Danke, das freut mich zu lesen! 😀
(Warum? Ich hab doch gleich zu Anfang gesagt „seines Freundes“… Auch Freunde können von den Dekorationen anderer Freunde verwirrt sein…)
Zucker! 😀