Mehrfamilienhaus
Meine Mutter, Frau Kuhn und Frau Specht haben gemeint, dass man dem Weihnachtsmann doch entgegen gehen müsse, um ihm zu helfen; man hörte ihn unten im Treppenhaus ganz laut röcheln. Immer wieder haben sich die Mütter übers Geländer gebeugt, besorgt nach unten gesehen und gesagt, dass jemand helfen müsse, weil der Weihnachtsmann mit zwei Säcken auf der Treppe festsitze und keuche. Aber der Herr Nussbaumer, Pauls Vater, meinte, dass er Rückenschmerzen habe, und mein Papa war gerade nicht da. Er ist noch einmal in unsere Wohnung gegangen, auf die Toilette oder so.
Meine Mutter hat dann zu uns Kindern gesagt, dass wir helfen sollen; aber da hat der Weihnachtsmann von unten heraufgerufen, dass es schon gehe. Am Ende hörten wir einen Schrei, ein Krachen, langes Rumpeln. Und dann nichts mehr, außer das Gekreische von Mama, Frau Kuhn und Frau Specht.
Ein paar Tage später bekam ich von meinem Kinderzimmer aus mit, wie meine Mutter den Papa anklagte, weil er zurück in die Wohnung gelaufen ist.
Sie sagte ständig zu ihm: „Und nur, weil du zu faul zum Tragen warst!“
Und mein Vater hat jedes Mal: „Aber ich habe doch nicht gewusst …“ geantwortet. Und dann hat er das Gesprochene abbrechen müssen, weil die Mutter „Nur, weil du zu faul warst!“ dazwischengeredet hat.
Ich habe mich immer wieder gefragt, warum die Frau Müller den Weihnachtsmann gespielt hat. Ständig habe ich mich fragen müssen, warum der Weihnachtsmann nicht selbst gekommen ist, zu uns ins Haus, mit all den Geschenken, die am Schluss total kaputt waren.
Pauls Computer war völlig im Eimer. Fritz’ elektrischer Hubschrauber auch. Die Puppenstube von Ines Specht hatte kein Dach mehr und überall lagen ihre Puppen und Puppenmöbel herum. Mein Laptop hatte einen Sprung bekommen und alle Schokoladentafeln und Marzipankartoffeln sind zerdrückt gewesen.
Meinen Vater habe ich aus dem Badezimmer heraus sagen hören, dass das alles früher nicht passiert wäre.
„Früher hat jeder Junge ein Spielzeugauto bekommen“, hat er geplärrt, „und jedes Mädchen eine Puppe!“ Sein Uropa, sagte er, habe zu Weihnachten bloß eine Apfelsine bekommen; und eine geknallt, weil er sie beim Schälen zermatscht hat.
„Aber heute werden die Weihnachtsmänner von Geschenken geradezu erschlagen!“, hat mein Papa noch gesagt und die Badezimmertür zugehauen.
Meine Mutter hat laut mit Tellern und Töpfen geschlagen und gefragt, warum überhaupt die arme Frau Müller als Weihnachtsmann herhalten musste. Meine Mutter stürzt sich immer in die Küchenarbeit, wenn sie wütend ist.
Mein Vater hat die Badezimmertüre wieder aufgemacht und geantwortet, dass Frau Müller das gerne getan hat, nach dem Tod ihres Mannes, und dass es Tradition war in der Straße, dass Frau Müller Heiligabend die Säcke mit den Geschenken zu schleppen hatte. Da hörte man die Gläser und Pfannen noch lauter scheppern.
Ich habe bis zu jenem Weihnachten fest an den Weihnachtsmann geglaubt. Nur einmal wurde ich etwas stutzig, nämlich als Pauls Vater zu meinem Papa sagte, dass die Frau Müller eigentlich gar keinen falschen Weihnachtsmann-Bart brauchen würde. Das war im letzten Sommer, beim Grillen hinterm Haus.
Ich muss sagen, dass Frau Müller ein guter Weihnachtsmann war; sie hatte einen dicken Bauch und eine tiefe Stimme. Im Treppenhaus habe ich einmal Ines’ Mutter zu meiner sagen hören, dass die Frau Müller den Bauch vom Saufen hätte. Und sie nannte Frau Müllers Bauch eigentlich nicht Bauch, sondern Wanst.
Frau Müllers tiefe Stimme jedenfalls kam von einer Halsoperation; das hat sie mir selber erzählt, weil ich sie extra gefragt habe.
Der Fritz, die Ines, der Paul und ich wissen jetzt, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Wenn es ihn gäbe, dann würde er nicht alte Frauen seine Säcke tragen lassen. Außerdem haben wir alle gesehen, dass es Frau Müller war, die die Geschenke bringen wollte. Nachdem sie alle Stufen hinuntergefallen ist, sind wir gleich losgelaufen, um nachzusehen.
Überall, auf der ganzen Treppe, sind Spielsachen gewesen; Spielsachen und Süßigkeiten, weil die Säcke aufgegangen sind. Frau Müllers Bart war im ersten Stock; aber sie selbst lag im Erdgeschoss. Und obwohl sie auf dem Bauch lag, hat ihr Gesicht an die Decke geguckt.
Marko Stiebritz
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