Gospels in der Steppe
Mirko schaute sich um. Die Sonne war schon seit einiger Zeit untergegangen, aber die Lichter des Zuges sorgten noch für ein wenig Beleuchtung auf dem Bahnsteig in Namibia, an dem normalerweise nur dreimal in der Woche eine Eisenbahn hielt; die Gegend war dünn besiedelt. Hier, an dieser alten Plattform im Südwesten Afrikas, mitten im Nirgendwo, hatte jetzt aber der Traditionszug „Star of Africa“ gehalten, mit dem eine größere Zahl von Reisenden aus Europa Afrika erkundete. Man war von Steppe umgeben, die vereinzelt mit Büschen und Bäumen durchsetzt war. Die anderen Zugpassagiere, die auf ebendiesem Bahnsteig an einem Braai, also einem für Südafrika und Namibia typischen Grillfest, teilgenommen hatten, waren in der Mehrzahl ältere Semester. Viele von ihnen hatten bereits ihre Abteile aufgesucht. Dazu gehörte auch Jens, Mirkos Reisegefährte, der zu müde war, um ihm Gesellschaft zu leisten. Nur ein paar andere Reisende saßen noch bei Kerzenschein an der Bar des Salonwagens, bedient von dem Kellner Sbusiso, versuchten wohl so etwas wie festliche Stimmung zu erzeugen.
Das einheimische Catering-Team, welches für das Grillen alles Notwendige, also auch Klapptische und –stühle mit Jeeps und Anhängern hergeschafft hatte, war bereits abgefahren. Die befanden sich auf dem Weg nach Hause, einem kleinen Ort namens Smallfontein, ein paar Meilen entfernt, für sie konnte es heute noch feierlich werden …
Es war der 24. Dezember, in Deutschland war jetzt Heiligabend, denn man befand sich in derselben Zeitzone. Für die ausschließlich südafrikanischen Zugangestellten aber, die dem britischen Brauch folgten, war der morgige Tag der eigentliche Weihnachtstag, an dem es die Geschenke gab, doch auch den würde das Team nicht zu Hause verbringen können.
Eigentlich hätte die Reise am 23. in Windhoek enden sollen, was den Mitgliedern des Zugteams, die minderjährige Kinder hatten, die Möglichkeit gegeben hätte, einen günstigen Flug nach Kapstadt zu nehmen. Die nächste Zugfahrt mit neuen Touristen, die in umgekehrter Richtung von Windhoek nach Kapstadt stattfinden sollte, war nämlich erst für den siebten Januar geplant. Doch sie konnten vorerst noch nicht nach Hause fliegen. Sandverwehungen an der Zugstrecke hatten den Reiseplan über den Haufen geworfen. Erst morgen stand daher die namibische Hauptstadt und damit das Ende der Reise an, die Mirko und seine Mitreisenden von Kapstadt aus hierher nach Südwestafrika gebracht hatte.
Die Touristen versuchten das Ganze locker zu nehmen, offenbar zeigte sich hier der Einfluss Afrikas am Ende eines schönen Urlaubs … Die Reiseleiterin hatte dank der modernen Kommunikationsmittel Großartiges geleistet, Umbuchungen waren erfolgt, Kostenerstattungen zugesichert worden … Die Zugangestellten zeichnete ohnehin eine große Gelassenheit angesichts der Verspätung aus – nicht nur die Schwarzafrikaner mit ihrem fröhlichen Naturell, sondern auch die weißen Angehörigen der Regenbogennation Südafrika, dieser Melange aus allen möglichen Ethnien. Weiße Buren (Nachkommen von reformierten Niederländern und Franzosen) und Briten, Kapmalaien, Buschmänner, Xhosa, Zulu, was für ein Mix, dieses Südafrika!
Nun war zwar selbst seit dem Ende der Apartheid nicht alles frei von Spannungen, aber die Zugbesatzung hielt zusammen, das hatten die Reisenden in den vergangenen zwei Wochen mitbekommen. Wie die Springboks, das berühmte Rugbyteam Südafrikas, in dem verschiedenen Ethnien auch an einem Strang zogen, so dass sie bereits zwei Weltmeistertitel errungen hatten. Sie waren benannt nach den Springböcken, die man in der südafrikanischen Steppe sehen konnte, hellbraun und weiß mit schwarzem Streifen.
Das Zugteam hatte sich mit Ausnahme von Sbusiso am Ende des Bahnsteigs versammelt. Ob es nun der Zugmanager Arthur Nyakane war, stämmig, glatzköpfig, mit seinem runden dunkelbraunen Gesicht oder die hochaufgeschossene Kellnerin Grace Kolisi, mit hellbraunem Teint unter einer Rastafrisur. Auch der Koch Jacques Pienaar mit den ruhigen grauen Augen und das blonde Zimmermädchen Danielle Craven sowie all die anderen – sie befanden sich als Gruppe ein Stückchen entfernt von Mirko. Sie hatten ein Radio und lauschten der Übertragung eines Gottesdienstes in englischer Sprache, wie Mirko feststellte. Steven Nkosi, sonst als Kellner tätig, schlank, jung und mit einer Bibel in den feingliedrigen schwarzen Händen, sprach für sich lautlos die Worte mit, die aus dem Äther kamen; Mirko sah die Lippenbewegungen. Der einsame Tourist schaute aufmerksam hinüber zu den Zugangestellten. Mirko war ein gebürtiger Serbe, doch seit Kindesbeinen in Deutschland ansässig. Von serbischen Männern sagte man, dass sie dreimal im Leben das Innere einer Kirche erleben: Anlässlich der eigenen Taufe, Hochzeit und Beerdigung …
Nun hatte Mirko in jüngeren Jahren an der Hand seiner Mutter schon des Öfteren eine orthodoxe Kirche aufgesucht, aber er war nicht sonderlich religiös. Trotzdem hatte er sich ein gewisses Gefühl dafür bewahrt und gerade jetzt machte ihn die Frömmigkeit der Afrikaner ziemlich nachdenklich. Irgendwie beneidete er sie um ihren tiefen Glauben.
Mirko hatte Krebs. Ein Tumor in der Lunge. Er hatte zwar vor drei Jahren – mit 50 – das Rauchen endgültig erfolgreich eingestellt. Vor drei Monaten war dann die Diagnose gekommen, der Fluch des falschen Handelns! Im Januar sollte die Chemotherapie beginnen. So war das Angebot seines alten Kumpels Jens, für dessen bessere Hälfte Yvonne einzuspringen und diese Zugfahrt an ihrer Stelle mitzumachen, äußerst günstig gewesen. Mirko hatte ein seit langer Zeit bestehendes Sparkonto aufgelöst – sollte er das Geld mit ins Grab nehmen? – und war mit nach Afrika gereist. Er hatte einfach alles andere beiseite gestellt, wobei der Vorteil darin bestand, dass er als Immobilienmakler selbstständig war.
Das Privatleben stellte auch kein Hindernis dar. Mirko war geschieden, der Kontakt zu seiner Tochter Branka spärlich. Das war die Folge einer unschönen Trennung, aber auch des Lebensstils Brankas. Zu seiner Mutter und seiner Schwester hatte er häufiger Kontakt. Dass seine Mama es möglicherweise erleben musste, wie ihr Sohn vor ihr abtrat, bereitete ihm zusätzlichen Kummer.
Und so saß er hier und blickte hinüber zu den Zugangestellten. Es verspürte eine wehmütige Trauer. Die Reise hatte so viel zu bieten gehabt – endlose Horizonte, grandiose Schluchten, imposante Berge, die Tierwelt – doch möglicherweise musste er diese Welt bald verlassen. Irgendwie war es aber tröstlich, dass diese Angehörigen der Regenbogennation an diesem Heiligabend so friedlich vereint ihren Glauben pflegten.
Der Gottesdienst, dem die Zugangestellten lauschten, beinhaltete andere musikalische Formen als Mirko sie vom europäischen Weihnachten her kannte. Hatte was von Gospel. Das Zugteam begann in den Gesang einzustimmen und zu klatschen. Schön, dass wenigstens diese Leute Harmonie kannten! Mirko musste unwillkürlich an Jugoslawien denken, an das Zerbrechen eines multiethnischen und multireligiösen Gemeinwesens, das er als seine Heimat betrachtet hatte, obwohl er in Deutschland lebte. Hier schien dieser Zusammenhalt trotz Diversität zu funktionieren. Seine Stimmung begann sich allmählich zu bessern.
Mirkos Gedanken schweiften zu seiner Tochter. Was zählte es angesichts seiner Krankheit jetzt noch, dass Branka mit einer Frau zusammenlebte? Na und?! Sie war sein Fleisch und Blut! Sollte sie doch machen was sie wollte!
Da bemerkte er, dass die stämmige Alice, die in der Bordküche arbeitete, eine einladende Geste machte. Er sollte zu ihnen hinüberkommen. Mirko fühlte sich angesichts der singenden und tanzenden Alice an den Film „Sister Act“ erinnert und musste lächeln. Wieso eigentlich nicht? Er mochte Blues- und Soulmusik. Wieso nicht auch diese Art Gospel? Und so bewegte er sich auf diese bunte Gruppe zu und schloss sich ihr an. War doch eigentlich ganz natürlich, oder? Dann begann Mirko sogar in den englischen Gesang so gut wie möglich einzustimmen. Er fühlte sich beinahe glücklich, irgendwie gelöst und leicht. Mirko konnte sich nicht erinnern, jemals so ein Weihnachten erlebt zu haben, ohne Kitsch und Konsum …
Viel später, nachdem er sich von dem Zugteam geradezu dankbar verabschiedet hatte, griff er in seinem Abteil zum Laptop. Und dann begann er eine Email zu schreiben, was aufgrund der WLan-Verbindung des Zuges via Satellit möglich war: „Liebe Branka …“
Jürgen Rösch-Brassovan
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