„Heute Würmer wird’s was geben“ – Neues aus Zamonien
Mit großer Vorfreude hat Bücherstädterin Kathrin auf den Erscheinungstermin des neuen Buchs aus dem Zamonien-Zyklus hin gefiebert – „Weihnachten auf der Lindwurmfeste“ von Walter Moers. Sie ist jedoch schon vorher auf deutlich negative Rezensionen gestoßen. Warum das Buch allerdings definitiv lesens- und liebenswert ist und was Kritiker mit einer Bäckerei zu tun haben, erklärt sie hier.
Es ist ja immer wichtig, sich eine eigene Meinung zu bilden, doch zugegebenermaßen haben mich die negativen Rezensionen – die sich größtenteils jedoch auf die Hörbuchausgabe beziehen – etwas verunsichert. Nichtsdestotrotz konnte ich es als Moersianerin der ersten Stunde kaum abwarten, dieses Buch in den Händen zu halten und mir selbst ein Urteil zu bilden. Ich setzte mich also hin und las, verschwand für kurze Zeit auf dem Kontinent Zamonien und erfuhr mehr über das Hamoulimeppfest der Lindwürmer, das unserem Weihnachtsfest nicht unähnlich ist. Hildegunst von Mythenmetz berichtet in einem Brief an seinen Freund Hachmed Ben Kibitzer von diesen Gebräuchen und klärt ihn über diese auf. So erfahre ich, wie die Lindwürmer ihre Geschenke verpacken, ihre Lindwurmfeste schmücken, speisen, singen und alles mit einem krönenden feuerlosen Feuerwerk ausklingen lassen.
Mythenmetz nimmt zum Fest selbst eher eine kritische Position ein und ist einigen Traditionen gegenüber nicht gerade positiv gestimmt, was auf ein mit Hamoulimepp verbundenes Trauma aus seiner Kindheit zurückzuführen ist (wer Näheres darüber erfahren möchte, sollte selbst nachlesen).
Wie immer ist das Buch liebevoll gestaltet und aufgemacht. Mythenmetz‘ Brief wird von Illustrationen von Lydia Rode untermalt, welche auch schon für den Vorgänger „Prinzessin Insomnia und der alptraumfarbene Nachtmahr“ den Pinsel geschwungen hat. Dem Brief sind ein Vorwort von Moers zu seinen Übersetzungstätigkeiten und ergänzende „Taxonomische Tafeln“ zu im Text beschriebenen Gebräuchen und Gegenständen beigefügt. So finden sich zum Beispiel Illustrationen zu den Inkarnationen von Hamoulimepp, zu Schuppenpuppen und den bereits erwähnten Feuerwerksraketen – um nur einige zu nennen. Diese unterstützen Mythenmetz‘ Brief optisch wunderbar und verbessern das Verständnis von in Zamonien vertretenen Gegebenheiten für durchreisende Leser. Denn wer weiß hierzulande schon, wie eine Gämsenpauke, eine doppelte Granitglocke oder ein Gonk (übrigens alles traditionelle zamonische Musikinstrumente) aussehen? Jede Seite ist farblich aufwendig gestaltet, was nicht nur der Optik wunderbar zuträglich ist, sondern – für die Buchschnüffler unter uns – das Buch auch ganz fabelhaft duften lässt.
Nachdem ich das Buch gelesen hatte und aus Zamonien zurück in die Wirklichkeit geholt wurde, begann ich zu grübeln. Mir hatte das Buch eine kurzweilige Reise zu eben jenem Kontinent beschert. Außerdem konnte mein Wissensdurst zu Zamonien durch viele neue Gebräuche der Lindwürmer gestillt werden. Neben bei uns ebenfalls bekannten Bräuchen wie zum Beispiel dem Sternensingen, gibt es bei den Lindwürmern auch solche, die uns fremd sind, wie unter anderem das „Bücher-Räumaus“, welches für Mythenmetz zu den wenigen positiven Aktivitäten an Hamoulimepp gehört. Wäre es nicht für Buchliebhaber ein Traum, an Weihnachten die Straßen entlang zu schlendern und in Bücherkisten zu wühlen, die die Nachbarn an ihr Gartentor gestellt haben? Schätze unter aussortierten Büchern zu finden, um dann darin zuhause gemütlich zu schmökern?
Neben diesen neuen Informationen habe ich einige alte Bekannte wie den Eydeeten Kibitzer oder auch die Rostigen Gnome wiedergetroffen. Ich habe mich einfach gefreut, Zamonien wieder einen Besuch abstatten zu können. Einige Anekdoten Mythenmetz‘ und das Wiedererkennen des eigenen Weihnachtsfestes in Hamoulimepp ließen mich durchaus schmunzeln. Für Moersianer ist sicherlich auch von besonderem Interesse, dass Moers sich in seinem Vorwort kurz zu dem für 2016 angekündigten Brief-Roman „Die Insel der 1000 Leuchttürme“ äußert. Hierzu erfahren wir, dass Moers die Briefe immer noch „bearbeitet und zur Veröffentlichung auswertet“ – für Zamonienfans gibt es also in dieser Richtung Hoffnung.
Ich war und bin deswegen nach wie vor verwundert, warum das Buch doch verhältnismäßig bescheiden bewertet wurde und die Kritiker nicht wenigstens verhalten mit den Zähnen knolfen. Verwundert vor allem deshalb, da die Kritikpunkte für mich nicht wirklich als solche zu bezeichnen sind. An dieser Stelle sei natürlich erwähnt, dass Geschmäcker verschieden sind und jeder seine eigene Meinung vertreten darf, jedoch möchte ich meine Position erklären, und erläutern, was ich damit genau meine.
Hauptkritikpunkt ist anderen Lesern nach, dass es sich nicht um einen Roman, eine Novelle oder gar eine Kurzgeschichte handelt, sondern um einen Brief, der uninspiriert einfach bekannte Weihnachtsbräuche auf Zamonien überträgt. Schaut man sich jedoch den Klappentext genauer an, werden hier keine Versprechungen gemacht, die diese Kritik rechtfertigen. Hat man diesen nämlich gelesen, geht daraus hervor, dass es sich um einen Brief von Mythenmetz an Kibitzer handelt. Außerdem wird die verblüffende Ähnlichkeit vom Hamoulimeppfest der Lindwürmer zu unserem Weihnachtsfest ebenso hervorgehoben. In dem Sinne werden dem Leser keine falschen Versprechungen gemacht, denn Novelle oder Kurzgeschichte werden hier nicht angepriesen, sondern man bekommt genau das, was genannt wird: einen Brief.
Den Kritikpunkt der zamonisierten Weihnachtsbräuche und deren vermeintliche Nicht-Inspiration kann ich ebenfalls nicht nachvollziehen, denn so funktionieren vereinfacht dargestellt die Zamonien-Romane nun einmal: Viele Lebewesen und Gegebenheiten sind von unserer Wirklichkeit inspiriert und werden auf den zamonischen Kontinent übertragen. In vielen Situationen entsteht gerade dadurch der Witz, eben weil eine solche Ähnlichkeit besteht, die die Überspitzung betont, Parodie und Satire hervorhebt und so gängige Normen aufzeigt. Auch das Prinzip der Fantasy funktioniert vereinfacht genau so: Viele Wesen, Welten oder auch Bräuche sind dort von unserer Welt inspiriert und werden dann in irgendeiner Form abgewandelt, wodurch das Fantastische als Element erst entsteht. Eben das wird hier auf das Weihnachtsfest angewandt, ist deswegen aber nicht als uninspiriert zu bezeichnen, denn an vielen Stellen ist Moers‘ Liebe zum Detail erkennbar, wenn zum Beispiel kreative zamonische Wortneuschöpfungen kreiert und sinnvoll in den Kontext eingebunden werden.
Die alte Leier, Moers solle doch bitte endlich den langersehnten dritten und abschließenden Teil zum „Labyrinth der Träumenden Bücher“, nämlich „Das Schloss der Träumenden Bücher“ schreiben, kann ich ebenfalls nicht mehr hören. Dazu sage ich nur: Gut Ding will Weile haben. Stattdessen könnte man sich ja einfach mal ganz unbändig und verrückt darüber freuen, generell etwas Neues aus Zamonien zu erfahren und die Ideenvielfalt und die Detailliebe dieses Mannes zu seinen anderen Zamonien-Projekten würdigen.
Aber ich möchte hier eine Abschweifung a là Mythenmetz vermeiden, also zurück zur weihnachtlichen Lektüre: Wer bei einem kleinen Büchlein mit etwas über 100 Seiten eine „ausgewachsene“ Geschichte aus Zamonien im Stile von „Die Stadt der Träumenden Bücher“ oder „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ erwartet, braucht sich im Nachhinein nicht zu wundern, wenn diese überdimensionalen Ansprüche nicht erfüllt werden. Noch dazu ist es ja ein Brief und keine Geschichte im eigentlichen Sinne, nicht mehr und nicht weniger. Dennoch ist dieses Buch lesenswert und wird bei einer angemessenen Erwartungshaltung auch nicht enttäuschend sein. Ich muss zugeben, dass ich als Moersianerin natürlich nicht komplett objektiv an diese Rezension herangehen kann, denn aus meiner Perspektive könnte Herr Moers wahrscheinlich auch das Zamonische Telefonbuch veröffentlichen und ich würde es verschlingen. Dennoch denke ich, dass ich zwischen einem „schwächeren“ Moers und einem vom Orm geküssten und mit dem Alphabet der Sterne geschriebenen Moers unterscheiden kann – wobei hier angemerkt sei, dass sich ein schwächerer Moers im Vergleich zu vielen anderen auf dem Markt kursierenden Büchern immer noch abhebt, vor Ideenreichtum sprüht und von einem Autor zeugt, der sein Handwerk versteht.
Dieses kleine Büchlein ist vielleicht nicht direkt vom Orm durchdrungen, wurde aber immerhin gestreift und ist so immer noch mit Wortwitz und Erfindungsreichtum gespickt, sodass es für echte Zamonienfans zur Sammlung dazugehört – ebenso für solche, die es noch werden wollen. Außerdem kann auch von einem Mythenmetz nicht erwartet werden, jede Zeile mit dem Alphabet der Sterne zu schreiben – zumal es sich hier – ich möchte es nochmal betonen – um einen Brief handelt.
Die Stimmen, die Moers‘ Orm als erloschen bezeichnen, weise ich aber bestimmt zurück (da ich mich beherrschen kann, schreibe ich an dieser Stelle nicht, dass sie mir allesamt die Schere spülen können!). Auch jene, denen das Buch nicht gefallen hat und die sich dadurch enttäuscht von Moers abwenden wollen, möchte ich an Mythenmetz‘ Vergleich zwischen Kritiker und Bäcker aus „Ensel und Krete“ erinnern. Mythenmetz setzt sich hier mit dem ungleichen Leistungsverhältnis von Schriftsteller und Kritiker auseinander. Während ein Autor teilweise Jahre an einem Buch arbeitet, würde ein Kritiker das Buch dann in wenigen Stunden quer lesen „wobei er die besten Stellen überspringt, um sich die schlechteren besser merken zu können.“ Mythenmetz zieht daraufhin das Beispiel seines Bäckers heran:
„Mein Bäcker backt leckere Hefeteilchen. Meistens sind sie köstlich, aber manchmal nimmt er zu viel Mehl oder zu wenig Zucker, und sie werden pappig oder unbekömmlich. Gehe ich deswegen hin und veröffentliche im Gralsunder Kulturkurier eine vernichtende Hefeteilchenkritik, um seine Bäckerei an den Rand des Ruins zu bringen? Nein, ich denke mir, dass er einen schlechten Tag hatte, vielleicht sind seine Kinder krank, oder er war übermüdet vom vielen Teilchenbacken. Ich erinnere mich an all die leckeren Teilchen, mit denen er mich schon erfreut hat, ich denke an seine harte und nächtliche Arbeit am Backofen und gehe am nächsten Tag wieder zu seiner Bäckerei, um ihm eine neue Chance zu geben.“
Wem „Weihnachten auf der Lindwurmfeste“ also nicht gefallen hat, sollte dem Meister noch eine Chance geben, denn schon Ende Februar 2019 ist ein neuer Zamonien-Roman angekündigt: „Der Bücherdrache“. Nebenbei bemerkt, lässt sich von eben diesem schon eine Leseprobe in dem kleinen Weihnachtsbüchlein finden. Wem das nicht genug Anreiz ist, liest sich diese Rezension einfach nochmal von vorne durch …
Weihnachten auf der Lindwurmfeste. Walter Moers. Illustriert von Lydia Rode. Penguin Verlag. 2018.
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