Auf den Aal gekommen

von | 31.03.2020 | Belletristik, Buchpranger, Sach- und Fachbücher

Seid ehrlich, ihr habt sie euch doch auch schon immer gestellt: die Aalfrage. Oder etwa nicht? Spätestens, wenn ihr wie Worteweberin Annika „Das Evangelium der Aale“ von Patrik Svensson gelesen habt, wird sich das schlagartig ändern.

Aale, das sind diese länglichen Fische, die ein bisschen wie Schlangen aussehen und die sich gerne im Schlamm verbuddeln. Viel mehr wusste ich nicht über diese faszinierenden Tiere, als ich mit der Lektüre von „Das Evangelium der Aale“ begann. Doch dann ging es schnell: Patrik Svensson und der Aal hatten mich ab der ersten Seite fest im Griff. Bei jeder Gelegenheit erzählte ich den Menschen in meinem Umfeld von den Aalen, ihren Besonderheiten und den Rätseln, die sie aufgeben. Ich bin auf den Aal gekommen. Aber wie ist das passiert? Müsste ich euch eigentlich vor diesem Buch warnen, weil es nicht nur „Evangelium“ heißt, sondern auch ein manipulatives Manifest ist?

Der Rätselfisch

In seinem erzählenden Sachbuch verbindet Patrik Svensson zwei Themen miteinander. Einerseits beschreibt er ausführlich die Geschichte der Erforschung der Aale, ihre Biologie – und vor allem ihre gut gehüteten Geheimnisse. Denn lange wusste man so gut wie gar nichts über die Fortpflanzung der seltsamen Fische. Aristoteles vermutete, der Aal werde aus dem Schlamm geboren, später glaubte man an Urzeugung, denn immerhin hatte man noch nie Aaleier oder auch nur Fortpflanzungsorgane gesehen. Erst viel später, im 20. Jahrhundert, konnte man den Aal besser verstehen. Doch die sogenannte Aalfrage ist noch lange nicht gelöst.

„Ich glaube, dass der Aal auch deswegen nach wie vor so viele Menschen fasziniert. Es liegt etwas Verlockendes in diesem Grenzland zwischen Glauben und Wissen, wo die Erkenntnis nicht vollkommen ist und deshalb sowohl Fakten als auch Spuren von Mythos und Fantasie enthalten darf.“ (S. 33)

Heute weiß man: Die Europäischen Aale kommen als junge Glasaale aus dem Atlantik zu uns. Sie wandern Flüsse hinauf, kriechen sogar über das Land, um schließlich in Seen und Tümpeln im Schlamm zu leben und sich in Gelbaale zu verwandeln. Irgendwann – und das kann wirklich lange dauern – beschließen sie, dass die Zeit reif ist: Sie verwandeln sich weiter in geschlechtsreife Blankaale und ziehen zurück in Richtung Ozean. Auch wenn man bis heute noch nie einen Blankaal dort gesehen hat, vermutet man, dass die Aale sich in der Sargassosee vor Nordamerika fortpflanzen und dort sterben. Wie genau ihr langer Weg von Europa aussieht, darüber gibt es aber noch kaum Informationen.

Aale in der Politik

Neben diesen wissenschaftlichen Fakten, beziehungsweise Vermutungen, beschreibt Patrick Svensson auch, welche Rolle die Aale in der europäischen Kultur gespielt haben und teils immer noch spielen. Er erzählt von Glaubenskonflikten in Irland, dem baskischen Streben nach Unabhängigkeit und schwedischen Küstenfischern. Fangrechte für Aale waren mit Macht verbunden und so früher immer ein Politikum. Auch heute muss in der EU noch über den Aal diskutiert werden: Sollte man seinen Fang verbieten? Gibt es Tiere, die dringenderen Schutz brauchen?

Ein gewisses Interesse an Naturwissenschaften und unserer Umwelt sollte man mitbringen, wenn man „Das Evangelium der Aale“ lesen möchte. Sonst können wahrscheinlich selbst die verständlichen und mitreißenden Ausführungen Svenssons einen nicht für den Aal begeistern. Begeisterungsfähige Leserinnen und Leser bringt dieses Buch aber spielend leicht dazu, in die Sargassosee abzutauchen und die Aalfrage auch nach der Lektüre weiter zu wälzen. Trotzdem ist das Sachbuch mehr als eine bloße Abhandlung über Aale. Die wissenschaftlichen Kapitel wechseln sich mit autobiografischen Passagen aus dem Leben des Autors ab und sorgen für Variation.

Vater und Sohn

In jedem zweiten Kapitel geht es darum, wie Patrik Svensson mit seinem Vater zusammen im schwedischen Schonen Aale fischen ging. Svensson erzählt, wie diese gemeinsamen Ausflüge die beiden zusammenschweißten – ohne dass der Junge eigentlich gerne Aale gegessen hätte. Er erzählt von (teilweise grausamen) Fangmethoden, wiederauferstehenden Aalen im Gartenschuppen und dem Rätselhaften am Aal, was Vater und Sohn begeisterte.

„Ich beschloss, dass man das, woran man glauben möchte, findet, wenn man es braucht. Wir brauchten den Aal. Ohne ihn wären wir zusammen nicht dieselben gewesen.“ (S. 203)

Letztendlich wird „Das Evangelium der Aale“ auch zu einem Buch über den Tod und der Aal zu einem Gleichnis dafür, dass die Verstorbenen für ihre Lieben erhalten bleiben. Damit verbinden sich die beiden Themenkomplexe Wissenschaft und Biografie, die Liebe zum Aal und auch die zum Vater.

Das Aal-Paradoxon

Doch leider kann das nicht schon alles gewesen sein, denn der Aal stirbt aus. Damit ist er natürlich nicht allein. Patrick Svensson beschreibt, dass immer mehr Tiere vom Aussterben bedroht sind und dass unser Planet auch schon früher Massenaussterben beobachten musste. Dieses Mal jedoch gibt es einen klaren Schuldigen: den Menschen.

Kann man den Aal noch retten? Das, so Svensson, ist schwer zu sagen, denn ihm wird seine Rätselhaftigkeit zum Verhängnis. Einerseits lässt sich der tatsächliche Aalbestand kaum bestimmen. Wahrscheinlich ist die Zahl der Glasaale inzwischen auf ein bis fünf Prozent der Zahlen aus den 1970er Jahren zurückgegangen. Solange man aber kaum etwas über die Fortpflanzung der Aale und ihren Weg in die Sargassosee weiß, lassen sie die Zahlen nicht bestätigen – und eine Lösung bleibt in weiter Ferne. Um den Aal zu retten, muss die Forschung ihn also möglichst schnell vollkommen enträtseln. Damit wird der Aal zum Paradoxon:

„Wenn wir den Aal schützen wollen, um uns in einer aufgeklärten Welt etwas bewahren zu können, das rätselhaft und undurchdringlich ist, können wir eigentlich nur verlieren. Wer der Meinung ist, ein Aal solle einfach nur ein Aal bleiben dürfen, kann es sich nicht mehr leisten, ihn auch ein Rätsel bleiben zu lassen.“ (S. 217)

Ein Sachbuch wie ein Aal

„Das Evangelium der Aale“ ist viel mehr als ein Manifest über den Aal. Es ist ein Buch über die Rätsel in unserer heutigen Welt, über die Wunder der Natur und die Zerstörungskraft des Menschen. Es erzählt von Hoffnung, Entdeckung und gesellschaftlichen Zusammenhängen und verbindet Persönliches mit naturwissenschaftlicher Forschung. Damit ist das Sachbuch so wandelbar wie der Aal selbst. Und es ist ebenso faszinierend! Allen, die sich für Umweltthemen interessieren, kann ich es nur wärmstens ans Herz legen!

Das Evangelium der Aale. Patrik Svensson. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. Carl Hanser Verlag. 2020.

 

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