„Beteigeuze… das hat so eine Schwere irgendwie. Das ist kein freundlicher Stern, der Beteigeuze heißt.“
Barbara Zeman ist eine preisgekrönte österreichische Autorin, die 2024 ihren zweiten Roman „Beteigeuze“ veröffentlichte. In diesem Roman begleiten wir Theresa Neges, die in ihrer ganz eigenen Welt zu versinken scheint und sich in einem manischen, rasend drehendem Wirbel zunehmend an die Ränder des totalen psychischen Zusammenbruchs wagt. Eine Sache verliert sie dabei jedoch nie aus den Augen: Beteigeuze, den grellen Riesenstern im Sternbild des Orion, der seit ihrer Kindheit eine fesselnde Sogwirkung auf sie ausübt. Bücherstädterin Luisa trifft sich, ganz gemäß der Wiener Kaffeehauskultur, in einem klassischen Café in der Wiener Innenstadt mit ihr, um über das Unisversum, ihre Inspirationen als Autorin, die Stadt Wien und natürlich über ihren neuen Roman zu reden.
BM: In Zeitungsrezensionen wird Theresa ja oft als „schwer zu fassen“ oder „sprunghaft“ charakterisiert. Und auch ich hatte beim Lesen oft das Gefühl, dass sie mir immer wieder entgleitet. Wie würdest du, als ihre Schöpferin, Theresa charakterisieren?
BZ: Puhhh… als eine Frau, die im Prinzip jede Sekunde damit beschäftigt ist, zu kämpfen. Damit sie nicht den Halt verliert, den Boden unter den Füßen. Und dass deshalb Dinge, die für Menschen, die keine psychische Krankheit haben, ganz einfach sind – Dinge, die du ohne eine Sekunde drüber nachzudenken nebenher sofort erledigen kannst – riesengroße Herausforderungen für sie sind. Sie ist im Prinzip auch eine sehr willensstarke Frau, obwohl sie so verloren ist. Als ich das Buch geschrieben habe, war das für mich wahnsinnig befreiend, weil sie sich manchmal einfach an nichts hält. Aufgrund dieser Krankheit kann sie aus vielem, was uns als Frau anerzogen worden ist, ausbrechen. Sie macht ohne Filter, was sie machen will. Wenn du darüber schreibst, ist das extrem cool und lustig irgendwie. Sicher ist sie eine sehr, sehr wilde Frau, und ungezähmt.
BM: Ich habe mich durch das Buch mehr mit dem Stern Beteigeuze beschäftigt, den kannte ich davor überhaupt nicht. Für Astronomen ist er eigentlich von großem Interesse, den meisten Laien jedoch gar nicht bekannt. Wie bist du auf diesen Stern gekommen?
BZ: Ich interessiere mich sehr für das Weltall. Bei Beteigeuze ist es so, dass der nächstkleinere Stern Antares ist. Aber von Antares zu Beteigeuze ist es dann immer noch ein Sprung – auf Videos siehst du dann erst nur ein kleines Stückerl von diesem Stern, weil er eben so riesengroß ist. Wenn er an der Stelle der Sonne wäre, wäre alles inklusive Mars verschluckt. Es gäbe keinen Merkur, es gäbe keine Venus, es gäbe die Erde nicht, es gäbe den Mond nicht und eben den Mars nicht. Es ist so ein riesengroßer Stern und unter dem stand immer: Beteigeuze. Ich habe mich mit dem Namen zuerst gar nicht zurechtgefunden, wusste nicht, wie man den ausspricht – deswegen hat er mich gereizt. Man spricht es übrigens ganz normal aus, also im Prinzip so, wie man es schreibt. Auf Englisch heißt er Beetlejuice und ich finde, das klingt viel leichter und humorvoller, aber Beteigeuze… das hat eine Schwere. Das ist kein freundlicher Stern, der Beteigeuze heißt, sondern eher eine dämonische Kugel, die in großer Entfernung zur Erde irgendwo im All hängt.
Ich habe wahnsinniges Glück gehabt, dass ich den Roman „Beteigeuze“ nennen durfte. Mein Verleger, Alexander Fest, hatte mal überlegt, einen eigenen Verlag zu gründen und er hätte ihn Beteigeuze genannt. So wusste er, wovon ich im Titel meines Buches spreche. Ansonsten wäre das sicher nicht gegangen, weil dtv ein sehr großer Verlag ist und es schwierig ist, einen Namen zu verkaufen, den die meisten Leute nicht aussprechen können. Es ist ziemlich cool, dass das dann geklappt hat, das ist irgendwie auch ein bisschen im Geiste Theresas, dieses „I don´t give a shit“.
BM: Der Text wird ja auch die ganze Zeit mit Fakten vermischt. Man lernt wirklich dazu, wenn man das Buch liest. Ist das ein Versuch von Theresa, diesen Wahnsinn in ihr zu kontrollieren?
BZ: Genau. Also das ist schon so ein Zähmungsversuch. Mit den ganzen Wikipedia-Zitaten ist es so, als würde sie eine Wand raufklettern wollen und immer in Griffweite schlägt sie einen Pflock ein, etwas, woran sie sich halten kann. Zum Beispiel gibt es in der ersten Sexszene dann plötzlich einen Wikipediaeintrag darüber, wie eine Vulva aussieht. Da merkt man, dass sie versucht, sich daran festzuhalten. Aber gleichzeitig ist sie nicht richtig anwesend, sie dissoziiert. Das Festhalten gelingt ihr nicht richtig.
BM: Du hast dich ja dann auch dafür entschieden, das Buch nach ihrem ersten großen psychischen Zusammenbruch anzusetzen. Sie war schon im AKH (Anmerkung: Krankenhaus in Wien). Sie hat das Schlimmste schon überstanden und eigentlich geht es ihr wieder besser. Erstmal zumindest. Wieso hast du dich dazu entschieden, das zu machen? Wieso nach dem großen Zusammenbruch und nicht davor?
BZ: Ich wollte, dass das Thema schon „rumschwebt“; dass schon mal was passiert ist und es für sie deswegen nichts Neues ist. Die Situation ist zwar ein totaler Ausnahmezustand, aber für sie im Prinzip doch etwas Vertrautes. So kann man das dann immer ein bisschen durchschimmern lassen.
BM: An einer Stelle des Buches vergleicht Theresa die Gesundheit der Menschen mit Larvenmasken, die wir alle tragen – unter diesen Masken versteckt sich dann aber eigentlich das Eklige, Abstoßende, das Unkontrollierbare, Angsteinflößende, das in jedem von uns wohnt. Sie vergleicht das mit einer Stadt und der darunter liegenden Kanalisation. Ihr Therapeut antwortet ihr daraufhin, dass das in Wien nicht so sei, wegen der Sauberkeit der Stadt. Hängen die Stadt und das Leben in ihr für dich mit dem Entfremdungszustand, in dem sich Theresa befindet, zusammen? Hast du mit Absicht eine Großstadt wie Wien als Spielort gewählt?
BZ: Mir kommt der Stadtraum wie eine ganz klare Struktur vor. Ich bin sehr froh, dass ich in Wien wohne und ich liebe die Stadt total. Und ich mag es, dass du einfach rumlaufen kannst, ohne dass es auffällt. Eisenstadt (Anmerkung: Zemans Geburtsort) ist wahnsinnig klein, dort weiß sofort jeder alles von allen. Hier in Wien hat man Freiheiten. Das bedeutet aber natürlich auch, dass das in einer Krise etwas sehr Ungeschütztes haben kann. So etwas Zugiges. Wien ist eine sehr, sehr windige Stadt, insbesondere im Winter.
BM: Der Kontrast ist dann bestimmt auch nochmal ein bisschen größer, wenn man in so einer kleinen Stadt aufwächst.
BZ: Ja. Ich habe bis jetzt auch immer die Erfahrung gemacht, dass es immer sofort eine Reaktion gab, wenn ich Besuch in Wien bekommen habe, von Freunden, die irgendwo anders herkommen. Die dann meinten, dass es wirkt, als ob Wien gestaubsaugt werden würde, weil es so aufgeräumt ist und so…
BM: Stimmt.
BZ: Aufzeigen wollte ich auch, wie dünnhäutig eigentlich jeder Mensch ist. Im Prinzip weißt du nie, was noch in deinem Leben passiert oder was dir zustößt – im Guten wie im Schlechten. Die Wahrscheinlichkeit, dass man im Laufe seines Lebens zum Beispiel eine schizophrene Episode durchlebt, ist sehr hoch. Für uns wirkt es aber oft so, als ob sich Menschen, die diesen Kontrollverlust erleben – diesen Wahnsinn, von einem quasi normalen Tag-Wach-Bewusstsein in einen anderen Zustand reinzuspazieren – in einem klar abgegrenzten Bereich befinden, ganz weit weg von uns, zum Beispiel in der Psychiatrie. Im Endeffekt sind die Faktoren, die dazu führen können, unvorhersehbar und unberechenbar. Das Risiko für Schizophrenie steigt zum Beispiel, wenn du im Winter geboren wirst oder wenn du in einer Stadt lebst, wegen des Stressfaktors.
BM: Wir kommen diesem Zustand ja auch schon nahe, wenn wir einen starken Schlafentzug erleben.
BZ: Oder wenn du nichts isst oder so… Ich glaube, dass das im Prinzip einfach etwas zutiefst Menschliches ist.
BM: Wir leben ja gerade in einer Gesellschaft, die sehr glückssüchtig, erfolgs- und konsumorientiert ist, und mit Rollenbildern arbeitet, in die wir uns eingliedern sollen. Aber Theresa entzieht sich dieser Gesellschaft total. Kann man diese Abgrenzung von der Gesellschaft in einem politischen Kontext auch als einen stillen Protest oder eine Rebellion sehen?
BZ: Ja. Ganz banal durch die Tatsache, dass sie eine Frau ist und auch weil sie sich nicht im Geringsten dazu eignen würde, von irgendeiner Bubengruppe vereinnahmt oder idealisiert zu werden. Ganz egal, ob das irgendwelche Elon Musk Boys aus den USA sind oder irgendwelche rechten Typen in Mitteleuropa.
BM: Bestimmt nicht. Sie kümmert sich ja auch sehr wenig um die Dinge, die eigentlich von ihr als Frau erwartet werden. Ihr Aussehen, ihre „Weiblichkeit“ und so weiter.
BZ: Genau, genau. Das war auch das Coole beim Schreiben, sie hat das überhaupt nicht entschieden. Es liegt einfach jenseits ihrer Art, die Welt so zu erfahren. Eigentlich soll sie Medikamente nehmen, entscheidet sich dann aber irgendwann dagegen. Woraufhin die Situation noch wilder wird… die Medikamente sind quasi ein Korrektiv, sie haben eine Pufferwirkung, aber durch ihre Weigerung wirft Theresa sich vollkommen in diesen manischen Schwindel rein. Der Roman umfasst eine manische Phase: Es wird immer wilder, wilder, wilder und am Schluss gibt es einen ganz sanften Abfall.
BM: Was sind deine größten literarischen Einflüsse?
BZ: Puh…das ist urschwierig zu sagen. Ganz wichtig war für mich Kafka. Ich weiß, dass das komplett unoriginell ist, aber es ist so! Irgendwann habe ich über tschechische Literatur gelesen, dass sie sich durch eine gewisse Absurdität und Schwere und Melancholie, aber gleichzeitig auch ein bisschen durch einen aberwitzigen Humor kennzeichnen würde. Und da dachte ich mir dann, dass das dem, was ich empfinde, wenn ich schreibe, sehr nahekommt. Aber eigentlich kenne ich mich nicht aus mit tschechischer Literatur. Zeman ist ein tschechischer Name und ich dachte mir, dass da vielleicht etwas durch mich wirkt, zu dem ich gar keinen Bezug mehr habe, was aber trotzdem noch da ist. Und ich mag Leiwand sehr gerne.
In den Verlagen ist es immer so, dass Autoren und Autorinnen zusammengesucht werden, die dem, was man macht, ähnlich sind. Und bei mir waren das, und das habe ich sehr treffend gefunden, Virginia Woolf, Sylvia Plath und Unica Zürn. Das Besorgniserregende an diesen drei Autorinnen ist, dass sie sich alle umgebracht haben (lacht). Das hat dann fast etwas von Psychoanalyse, wenn ich mir nicht selbst diese Zuschreibungen gebe, wo meine Ahnen und Ahninnen sind, sondern wenn das jemand macht, der von Literatur wahnsinnig viel versteht und diesen Text, den noch niemand gelesen hat, sieht und entscheidet, wo man ihn verortet.
BM: Hast du ein Lieblingsbuch?
BZ: Es gibt einen Verlag, den ich total liebe und das ist tatsächlich auch ein Verlag, wo ich überhaupt kein Problem hätte, wenn ich mit einem Abo jedes Buch kriegen würde, was dort rauskommt (lacht). Der Verlag heißt „Guggolz“. Dort werden lauter Romane herausgegeben, die in anderen Sprachen teilweise vor hundert Jahren oder so erschienen sind, die also kein Mensch kennt und die aber zum Zauberhaftesten und Schönsten gehören, was ich in meinem ganzen Leben jemals gelesen habe. Es gibt einen Autor, Tarjei Vesaas und seine Bücher sind so, so gut, die haben mir richtig den Atem verschlagen. Von ihm kann ich „Das Eisschloss“, „Die Vögel“ und „Der Keim“ sehr empfehlen.
BM: Letzte Frage: Was würdest du angehenden Autoren und Autorinnen raten?
BZ: Schreiben. Einfach schreiben. Und sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Sich bewusst sein, dass der Weg, den man sich gesucht hat, kein leichter ist, aber einfach weitermachen, weitermachen, weitermachen und sich nicht davon irritieren lassen, dass einen die Leute manchmal für ein bisschen wahnsinnig halten (lacht). Aber wenn man das liebt, dann schafft man das. Auch wenn es ein bisschen verquer ist, was man macht.
Foto: Judith Stehlik
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