Briefkästen sind am Verhungern!

von | 25.07.2014 | Gedankenkrümel, Kreativlabor

Wir befinden uns in einer schlechten Zeit für Briefkästen. Sie bleiben hungrig oder werden mit Werbeprospekt-Fast-Food und Rechnungen abgefertigt.

Die Leiden des hungrigen Briefkastens

2000: Ich sitze vor einem leeren Blatt Papier, ohne die geringste Ahnung, was ich meiner ersten Brieffreundin schreiben sollte.
1774: Johann Wolfgang von Goethe, noch ein junger, überschäumender Stürmer und Dränger, veröffentlicht seinen Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“. Er löst damit unbeabsichtigt einen Skandal aus: eine Modewelle der kanariengelben Hosen und eine Selbstmordwelle. Die Briefe Werthers an seinen Freund, in denen er sein Leben und sein Leid schildert, sind auf eine Art intim, wie sie für die heutige Zeit nicht mehr vorstellbar erscheint. Es gibt dem Leser das Gefühl, ein Voyeur zu sein – durch das Loch in der Wand auf die Ereignisse zu blicken.

Sie erscheinen wie ein Relikt aus alter Zeit: wer heute einen Brief schreibt, ist „altmodisch“. Wer heute Briefe schreibt, dem fällt es schwer, ehrlich zu sein. Es fällt generell schwer, Briefe zu schreiben, und das in Worte zu fassen, was den Empfänger erreichen soll. Wir befinden uns in einer schlechten Zeit für Briefkästen. Sie bleiben hungrig oder werden mit Werbeprospekt-Fast-Food und Rechnungen abgefertigt.
Nur manchmal verirrt sich eine Postkarte in ihren Schlund: die lieben, sonnigen, sandigen, meer-igen, regnerischen Urlaubsgrüße sind wie die Kirsche auf dem Dessert. Sie zaubern ein Lächeln auf die Lippen ihrer Empfänger, und vielleicht auch auf die Lippen jener, deren Hände sie auf dem Weg zu ihrem Ziel passieren. Postkarten sind etwas Einzigartiges: sie sind Briefe im Kleinformat, mit bunter Vorder- und gedankenschwerer Rückseite – will man denn so viele Gedanken teilen.

Ich hatte einige Brieffreunde, doch in keinem der Briefe an sie gelang es mir, in Worte zu fassen, was ich dachte. Es war, als wären meine Gedanken einfach so… verpufft. Tabula rasa. Erst Jahre und zwei gescheiterte Brieffreundschaften später ging mir eines Abends ein Licht auf, während ich über eine Postkarte mit Amsterdam-Motiv gebeugt saß und einen kleinen philosophischen „Roman“ aufs verstärkte Papier brachte. Das leere Papier eines Briefes hat eine so große Fläche, die es zu füllen gilt. Das ist manchmal ganz schön schwierig.
Eine Postkarte hingegen stellt mit ihrem begrenzten Platz und ihrer freundlich-bunten Vorderseite keine Anforderungen. Wir dürfen nur ein „Liebe Grüße aus der Bücherstadt“ daruntersetzen, aber es darf auch mehr sein. Wir können groß oder klein schreiben, schief und gerade. Wir können zeichnen, malen, Ausrufezeichen setzen so viele wir wollen!

Briefe waren philosophisch, tiefgehend und intim. Wir verschlingen heute noch die Briefe Goethes, Schillers und vieler anderer Persönlichkeiten. Die Forschung benutzt sie als Interpretationsschlüssel, Biographen lesen ihren Charakter heraus. Die amerikanisch-englische Schriftstellerin Sylvia Plath etwa besprach ganze Gedichtkonzepte in Briefen an ihre Mutter.
1998: Ihr Mann, der Engländer Ted Hughes, verarbeitete in Gesprächen in Gedicht-Form ihren frühen Tod und die Jahre ihrer Beziehung in einem Gedichtband mit Titel „Birthday Letters“.
2014: Ich erwarte schon sehnsüchtig meinen nächsten Urlaub, um wieder Postkarten zu schreiben.

Erika

Bücherstadt Magazin

Bücherstadt Magazin

Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

3 Kommentare

  1. Avatar

    Lieber Bücherstadt-Kurier, auch der Briefeschreiber bekommt gerne Post. Ich will damit sagen, dass ich schon vor 6 Wochen eine Geschichte zu dem düsteren Wegweiser geschrieben habe, und leider warte ich immer noch auf eine Antwort. Der Wegweiser führte ins Nichts.

    Antworten
    • Bücherstadt Kurier

      Liebe Dorothea,
      möglicherweise hat sich unser Buchfink mit der Benachrichtigung über die Veröffentlichung deines Textes verflogen. Aber hast du schon einmal einen Blick in die neue Ausgabe geworfen? Schau mal auf Seite 36: – bei uns gibt es keine Wegweiser, die ins Nichts führen. 🙂
      Liebe Grüße,
      Alexa

      Antworten
  2. Avatar

    Liebe Alexa, hier ist der Buchfink nach seinem langen Flug angekommen. Ich bin ihm sehr dankbar für die Nachricht und ich habe sofort das Magazin aufgeschlagen. Ich werde die Seite kopieren und den beiden Salzburgern zukommen lassen. Sie haben sich inzwischen auch einem Verein angeschlossen, der das Erbe der Salzburger Flüchtlinge pflegt und weiter erforscht.

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