Mit „Buh! Gespenstergeschichten“ hat Diogenes termingerecht zur Halloweenzeit einen Geschichtenband herausgebracht, der sich rund um das Thema Gespenster und Grusel dreht. Bücherstädterin Luisa hat das Wagnis unternommen und sich auf eine Reise in die dunkelsten Abgründe des Schreckens begeben.
Exfrauen mit Rachegelüsten, blutende Portraits und merkwürdige Haustiere: Der Band vereint auf gut 250 Seiten ein Gruselgedicht und 16 fesselnde Kurzgeschichten, die sich über verschiedene Länder und Epochen spannen. In der Sammlung finden sich sowohl Werke großer Meister*innen des Gruselns wie Bram Stoker, Edgar Allan Poe oder Shirley Jackson, sowie moderne Autor*innen wie etwa Dror Mishani. Erstmals veröffentlicht werden in dem Band Texte von Patricia Highsmith und Joey Goebel. Gewünscht hätte ich mir jedoch eine diversere Auswahl an Autor*innen unterschiedlicher Länder, denn dominiert haben Texte der westlichen Welt, namentlich aus England, der USA und Deutschland.
Existenzielle Ängste und Grenzbereiche
Dem Band gelingt es, elegant eine Brücke zwischen klassischen und zeitgenössischen Stimmen des Schauderns zu schlagen, die den Lesenden die Möglichkeit gibt, die Bandbreite und Bedeutung des Genres der Schauerliteratur über epochale Grenzen hinweg mitzuverfolgen. Eines verändert sich über die Zeit hinweg jedoch nicht: Populäre Motive der Schauerliteratur finden sich im ganzen Band. Seien es nun Gespenster und Untote, (un-)heilige Totenmessen oder düstere Szenerien – die genredefinierenden Stoffe ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichten und sorgen für eine anhaltende Gänsehaut.
Schauerliteratur fungiert oft auch als eine Reflektion über die Ängste der Gesellschaft: Arbeitet Edgar Allan Poe in „Die Maske des roten Todes“ den Stoff der Pestepidemie auf, die seinerzeit noch als Sinnbild des Schreckens stand, so beschäftigt sich Dror Mishani in „Die Begegnung“ mit dem Thema des Nahost-Konflikts, der heutzutage vielen Menschen Sorgen bereitet. Existenzielle Fragen, Ängste und kollektive Traumata werden literarisch aufgearbeitet und der Leserschaft nähergebracht. Dadurch begegnen die Leser*innen traditionellen Spukgestalten in „Buh! Gespenstergeschichten“ ebenso wie Manifestationen „neuer“ Ängste, die sich in Grenzbereichen zwischen Leben und Tod, Vernunft und Wahnsinn oder Fremdem und Eigenem ansiedeln.
Die versammelten Autor*innen setzen in ihren Geschichten ganz unterschiedliche Akzente: Sowohl psychologische, realitätsnahe Angstmomente als auch übernatürliche Elemente werden eingesetzt und oft ganz gezielt miteinander verwoben. Dadurch zieht sich eine gruselige, leicht entfremdete Stimmung, durch das ganze Buch, die sich nach dem Lesen nicht so leicht wieder abschütteln lässt. Passend zur Stimmung wurde die „Dichtung des Schreckens“ von Ralf König mit düsteren Schwarz-Weiß-Illustrationen untermalt, die mir mit ihrem liebevollen Zeichenstil viel Freude bereitet haben und das Buch um einen künstlerischen Aspekt erweitern. Mich hat sehr gefreut, dass der Band sich durch die Aufnahme eines Gedichts so auch in verschiedenen Genres bewegt. Ich hätte mir jedoch noch mehr Gedichte als Ergänzung gewünscht.
Abwechslungsreiche „Gruselkurve“
Insgesamt ist der Sammelband von Diogenes auch für Menschen, die sich schnell gruseln, gut geeignet, da die Geschichten sich in ihrer „Gruselintensität“ unterscheiden. Mal wird der Schrecken rätselhaft detektivisch oder sogar humoristisch aufgearbeitet, mal dominieren klassische Horror-/Schreckensgeschichten. Das Buch bietet dadurch eine abwechslungsreiche Spannungskurve, die dafür sorgt, dass man beim Lesen nicht konstant „unter Strom steht“.
Manche Geschichten erschienen mir allerdings etwas platt und boten wenig(er) Raum für Interpretation oder Einfühlung. Wettgemacht wurde das durch Texte, denen es gelang, das Thema der Angst sowohl stilistisch als auch inhaltlich äußerst facettenreich zu gestalten. Herausgestochen sind dabei für mich die Erzählungen „Aura“ von Carlos Fuentes und „Die Affenpfote“ von W.W. Jacobs. In „Aura“ gerät ein Mann in die Fänge eines verwunschenen Anwesens mit exzentrischen Bewohnerinnen, in dem sich die merkwürdigen Vorkommnisse schnell häufen. In W.W. Jacobs Geschichte werden die merkwürdigen Ereignisse hingegen von den Protagonist*innen selbst hervorgerufen und zwar mit Hilfe einer geheimnisvollen Affenpfote.
Neugierig geworden? „Buh! Gespenstergeschichten“ fängt die besonders gruselige Atmosphäre der Halloweenzeit treffend ein. Das Buch ist somit eine schöne Erweiterung im Buchschrank aller Gruselenthusiast*innen.
Buh! Gespenstergeschichten. Ausgewählt von Marion Hertle. Diogenes. 2024.
Ein Beitrag zur #Todesstadt.
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