Sprache ist ein Wunder und ein wundervolles Instrument. Sie ist extrem präzise und gleichzeitig so unpräzise wie es nur geht. Wir verstehen uns und trotzdem kommt es zu Missverständnissen. Es ist ein Paradoxon. – Von Zeilenschwimmerin Ronja
Bestimmte Wortgruppen übernehmen bestimmte Aufgaben, teilweise mehrere. Die Artikel setzen das Geschlecht fest und machen gemeinsam mit Singular und Plural deutlicher, um welches Ding oder welchen Menschen es nun geht. Wörter wie trotzdem, obwohl, weiterhin, danach, zuvor, davor und dahinter geben Aufschluss darüber, in welcher zeitlichen-räumlichen-kontextuellen Beziehung verschiedene Satzteile und der darin ausgedrückte Inhalt zueinanderstehen. All das ist durch Jahrtausende von sprachlicher Entwicklung entstanden und all das haben wir gelernt, als wir sprechen lernten. Solange uns nicht die Begriffe dafür in der Schule eingeprägt wurden, wussten wir nicht unbedingt, dass wir es wissen (oder wie wir es ausdrücken sollen). Tatsächlich habe ich den Eindruck, je mehr man sich mit dem Aufbau und den Funktionen von Sprache beschäftigt, desto unklarer wird sie.
Wortbedeutung
Da sind zum Beispiel Wörter, die eine ähnliche Bedeutung haben, etwa Ast und Zweig. Dennoch sind sie nicht bedeutungsgleich, da sie zwar auf dasselbe biologische Phänomen (einem holzigen Auswuchs aus einer Pflanze) hindeuten, aber unterschiedliche Ausprägungen davon bezeichnen. Ein Ast ist größer, dicker, vermutlich älter und stärker als ein Zweig. Verwendet man diese beiden Wörter richtig, entsteht bei den Gesprächspartnern das gewünschte Bild, zum Beispiel von einem knorrigen, moosbewachsenen Ast, auf dem man sitzen kann. Vertauscht man aber beide Wörter miteinander und sagt „Ich bin auf einem Baum herumgeklettert und habe mich auf einen Zweig gesetzt.“, kann das verwirren. Hat sich diese Person auf einen Ast gesetzt, aus dem ein Zweig wuchs, der sie in das Gesäß gestochen hat, oder wollte sie sich tatsächlich auf einen zierlichen Zweig setzen? Ist sie dann mitsamt Zweig abgestürzt? Wenn man es ganz genau nimmt, können wir nicht einmal sicher gehen, dass die beiden Ereignisse (auf den Baum klettern – auf einem Zweig sitzen) miteinander verbunden sind. Vielleicht ist die Person auch erst geklettert und hat sich dann später auf einen Zweig gesetzt, der zum Beispiel auf einer Parkbank lag. Dafür brauchen wir entweder mehr Informationen (also mehr Sätze) oder den nonverbalen Kontext (hat die Person etwa einen Gips, spräche das für die These, dass sie mitsamt Zweig abgestürzt ist).
Angesichts der Probleme, die allein schon bei einfachen Sätzen und Wörtern entstehen können, wird es noch schwieriger bei den Abstrakta. Abstrakta sind Wörter, die nichts Konkretes, Dingliches wie Tisch, Baum, Hund, Himmel und Ähnliches bezeichnen, sondern etwas nicht Sächliches, Nichtfassbares, eben etwas Abstraktes. Typische Beispiele sind hier Liebe, Seele und natürlich Unendlichkeit. All das sind Wörter, die wir häufig nutzen, und auch verstehen – oder meinen, sie zu verstehen. Doch was Abstrakta auszeichnet, ist ihre Eigenschaft, immer unklarer zu werden, je mehr man versucht, sie zu fassen und zu definieren.
Schriftsprache
Nehmen wir jetzt noch hinzu, dass Schriftsprache nicht identisch ist mit gesprochener Sprache, steigert sich das Durcheinander weiter. Die Schriftsprache ist durch Konventionen, Gewohnheiten und natürlich historische Ereignisse geprägt. Die meisten europäischen Sprachen nutzen das lateinische Alphabet, das sie anno dazumal mehr oder weniger freiwillig von den Römern übernahmen. Aber dieses Alphabet ist für keine dieser Sprachen geschaffen. So kommt es, dass lateinische Buchstaben in verschiedenen Sprachen andere Laute verdeutlichen. Das Englische i ist ein Deutsches ei und das Norwegische u (meistens) ein Deutsches ü. Das Deutsche ch – wobei es hier ja auch noch zwei Varianten gibt (weich wie in weich oder hart wie in Krach) – macht sehr vielen Nichtmuttersprachler*innen große Probleme, weil ihre Sprache diesen Laut nicht oder kaum nutzt. Dass wir Fahrrad mit f und Vogel mit v schreiben, obwohl beides einen F-Laut hat, verwirrt selbst uns Muttersprachler*innen. Theoretisch bräuchten wir wohl nur einen von beiden Buchstaben. Aber weil Generationen an Menschen vor uns frei nach Gehör und Gefühl geschrieben haben, bis sich bestimmte Schreibweisen durchgesetzt hatten, müssen wir nun damit leben. „Rechtschreibfehler“ sind so betrachtet also bloß Abweichungen von Konventionen. Allerdings hilft eine einheitliche Rechtschreibung uns natürlich dabei, Missverständnisse zu reduzieren.
Gesprochene Sprache
Gesprochene Sprache wiederum ist wesentlich flexibler und Formulierungen, die verschriftlicht als Fehler oder schlechter Stil gewertet würden, gehen meistens unbeachtet durch. Wenn wir sprechen, nutzen wir häufig (fälschlicherweise) das Perfekt – ich habe das und das gemacht – obwohl wir in den vielen Fällen das Präteritum nutzen müssten – ich machte das und das. Aber weil diese Art der Verwendung des Perfekts sich mittlerweile eingebürgert hat, klingen Formulierungen im Präteritum in gesprochener Sprache eher übertrieben, gestelzt, fast schon hochnäsig. Das gilt insbesondere für die starken (auch: unregelmäßigen) Verben. Zur Erinnerung: Das sind Verben wie zum Beispiel gehen (ging), schlafen (schlief) oder auch backen (im veraltenden Präteritum: buk), bei denen sich der Vokal beim Deklinieren ändert.
Hinzu kommen natürlich noch Slang-, Jugend- und Fachsprachen. Je nachdem in welchem Umfeld ihr euch bewegt, braucht ihr anderes Vokabular. Während die einen von einem nicen neuen Video sprechen, reden die anderen eben über diffundierende Stoffe mit Namen, die eine ganze Zeile benötigen, und wieder andere können weder mit dem einen noch mit dem anderen viel anfangen. Oder man ist in verschiedenen Welten zu Hause, dann muss man bloß noch wissen, wann man das Vokabular switchen muss.
Sprache ist beileibe nicht einfach. So viel hängt von den Umständen ab, in denen sie gerade verwendet wird. Ein harmloses Wort kann zu einer Beleidigung werden, eine Beleidigung kann von Insidern als liebevoller Freundschaftsbeweis aufgenommen werden. Mit all den Beispielen in diesem Beitrag habe ich gerade mal so an der Oberfläche der Eigenheiten und Möglichkeiten gekratzt. Doch gerade weil Sprache so komplex, so vielfältig und kontextabhängig ist, können wir mit ihr so viel ausdrücken und auch so kreativ mit ihr umgehen.
[tds_note]Wenn ihr noch mehr über Sprache lesen möchtet, gibt es hier noch einen Artikel über gendergerechte Sprache und Bedeutungsveränderungen.[/tds_note]
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