In „Wo bleibt das Meer?“ sind Gedichte von Ted van Lieshout über die Kindheit und das Erwachsenwerden versammelt. Sie fangen das Gefühl des Umbruchs, der Erwartungen und Entdeckungen ein, welche die Jugend begleiten. Worteweberin Annika hat hineingelesen.
In den Gedichten greift der Autor ganz unterschiedliche Themen auf: In „Wintermorgen“ zum Beispiel geht es um die erste Verliebtheit auf dem Pausenhof, in „Wie es heisst“ dann um die erste Beziehung: „Du nennst mich mit Händen / und Lippen, liest mich und ich hoffe, / ich habe viel zu erzählen.“
Das poetische „Unterwegs“ und einige andere Texte greifen das Verhältnis zu den Eltern auf: Das Gefühl, sich langsam loszulösen und den Eltern zu entwachsen, beschreibt Van Lieshout in „Gefrorene Sprechblasen“ zum Beispiel so: „Ich komme nicht mehr heim als das Kind, das du kennst; / bin plötzlich ein Fremder im Regen, / der Spielverderber.“ Manches, was da geäußert wird, ist ganz schön hart, wie das Gedicht „Mutter“: „Eine Mutter ist immer praktisch, wenn gerade eben / kein anderer da ist, mir Liebe zu geben.“ Und auch die Frage nach der Konstanz in der eigenen Identität stellt Van Lieshout, wenn er sich in „Alte Fotos“ fragt, was eigentlich übrig bliebt, wenn man älter wird und sich verändert. „Stimmt es, dass es Kinder / nicht wirklich gibt?“, kann man sich da fragen.
Die meisten der Gedichte sind sehr nachdenklich. Dennoch gibt es ab und zu auch was zu lachen und einige eher augenzwinkernde Ratschläge: „Ach ja, und das noch: Zeichne / nie dein eigenes Haus mit Bleistift / denn überall laufen Radiergummis rum.“
Das titelgebende Motiv des Meeres bestimmt auch viele der Texte von Van Lieshout, in denen das Meer für die Erfahrungen, das Entdecken, das langsame Erwachsenwerden steht: So groß und noch dazu meist weit weg. Kein Wunder also, dass sich ein lyrisches Ich fragen muss: „Wo bliebt das Meer?“. Im letzten Gedicht aber kommt es dann an, um für immer am Meer zu bleiben. Natürlich ohne mit dem Strandspielzeug der (anderen) Kinder zu spielen.
Die Gedichte fangen Gefühle und Gedanken ein, in denen sich wahrscheinlich viele Kinder an der Schwelle zum Erwachsenwerden wiederfinden und an die auch Erwachsene sich noch erinnern können. Die ein- oder zweifarbigen Illustrationen von Brigitte Püls harmonieren sehr schön mit den Gedichten. Sie lassen viel Raum für eigene Assoziationen, ohne einfach den Text zu bebildern. Das alles macht „Wo bleibt das Meer?“ zu einem schönen Gesamtkunstwerk, in dem es sich lohnt zu stöbern.
Ein Beitrag zum Projekt #litkinder. Hier findet ihr alle Beiträge.
Wo bleibt das Meer? Ted van Lieshout. Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. Illustrationen: Brigitte Püls. Susanna Rieder Verlag. 2017.
Illustration: Buchstaplerin Maike
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