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In Nicky Singers „Davor und Danach“ hat sich die (Um-)Welt grundlegend verändert. Für uns normale Umstände aus dem Davor sind Vergangenheit, im Danach sind Flucht und Tod allgegenwärtig. Satzhüterin Pia hat das Buch im Februar im Bookzoom Buchclub auf Twitter gelesen und blickt auf die Leserunde für das Umwelt-Special noch einmal zurück.
Die Welt ist nicht mehr das, was sie einst war. Das Klima hat sich verändert, die Erderwärmung hat unnatürliche Temperaturen hervorgebracht, extremes Wetter zerstört die Umwelt und „jeder zieht nach Norden“ (S. 23). Es beginnt damit, dass die 14-jährige Mhairi zu Fuß England durchquert, auf dem Weg zurück in ihre Heimat Schottland. Häppchenweise bekommen wir Leserinnen und Leser Informationen darüber, wie die Welt in diesem zerstörten (und auch zerstörerischen) Danach aussieht, wie sie im Davor war und was Mhairi auf ihrer langen Reise erlebt hat. Sie trifft auf einen alten Mann und einen Jungen. Der Mann stirbt während des kurzen Treffens, der Junge wird ihr (unfreiwilliger) Weggefährte.
Heimat …
Mhairi ist gebürtige Schottin, gilt jedoch als sogenannte Rückkehrerin, weil sie länger als fünf Jahre fort war. Dies ist wichtig, weil sie somit in den Sudan zurückkehren muss – dort hatte sie mit ihren Eltern zwischenzeitlich gelebt –, wenn nicht nachweislich beide Großeltern in Schottland geboren wurden. Der Sudan ist Kriegsgebiet.
Der Grund für diese spezifische Regelung von Heimat ist so simpel wie katastrophal: Die Erde ist zu heiß und es gibt zu viele Menschen. Und sie alle wollen nach Norden, dorthin, wo man noch gut leben kann, während man in anderen Ländern zu verbrennen droht. Zahllose Menschen fliehen aus diesen Gegenden. So auch Mhairi und der Junge.
An verschiedenen Stellen wird Mhairi klar, dass es Glück ist, wo auf der Welt jemand beheimatet ist. Es könnte auch ihr Zuhause sein, das nun Sand und Staub ist. „Und das Land des Jungen kühl und feucht.“ (S. 211)
… Flucht …
Das Thema Flucht wird in den ersten Kapiteln in „Davor und Danach“ auf weitere Arten aufgegriffen: Beim Überqueren der Grenze werden Mhairi und der Junge abgefangen und, weil Mhairis Heimat noch zu klären ist, in ein Auffanglager gebracht. Sie schaffen es, aus diesem Lager zu fliehen und landen in Glasgow. Hier ist ein Strom aus flüchtenden Menschen unterwegs – besonders afrikanische Menschen. Die Einheimischen behandeln die Flüchtenden wie Dreck. „Sie werfen Gegenstände, die auf die Fremden niederprasseln. Glasflaschen, Blechdosen, Kleiderbügel, alte Schuhe.“ (S. 172) Themen wie Heimat und Flucht ziehen sich bis zum Ende durch das Buch. Dass Heimat auch mehr als ein Ort sein kann – manchmal bedeutet auch ein Mensch „Heimat“ –, ist dabei eine schöne Erkenntnis.
… Fremde
Das Fremdsein klingt bereits an, als die beiden in einem Transporter versteckt nach Glasgow fahren. Mhairi bestaunt begeistert ihr grünes Schottland. „Mein feuchtes grünes Land, ein Zufall der Geburt.“ – während der Junge „das Goldgelb seiner Träume“ vermisst. Denn sein Land ist nicht von hunderten von Grüntönen geprägt, seins ist anders: „Sein Land aus Sand und Staub. Zu heiß inzwischen, zu trocken, um dort zu leben. Aber trotzdem geliebt.“ (S. 169)
Auch Glasgow, die Stadt, in der Mhairi zu Hause war und zur Schule ging, ist ihr nicht mehr vertraut. „Glasgow leuchtet grell, elektrisch, neonfarben. Fremd.“ (S. 184) Das eigentliche Ziel jedoch ist nicht Glasgow, sondern die Insel Arran, auf der Mhairis Großmutter lebt. (Was mit den Eltern geschehen ist, erfahren wir erst weiter hinten im Buch.) Auch beim Fährterminal gibt es einen Moment der Fremde – doch anders als üblicherweise: Anfangs erschließt sich Mhairi nicht so recht, warum ihr die ganzen Menschen, die dort anstehen, seltsam vorkommen. „Dann wird mir klar, dass es ihre Hautfarbe ist. Fast alle diese Gesichter sind weiß. Keltisch weiß.“ Länder, Grenzen, Menschen und Hautfarben – all das hat sich für Mhairi verändert. „Und das Fehlen schwarzer Gesichter kommt mir merkwürdig vor.“ (S. 217)
Feindliche Umwelt, freundliche Umwelt
Während einer Autofahrt zum Fährterminal vor der Insel Arran regnet es. „Kein furchtbarer Gewitterregen, sondern normaler Regen. Ganz alltäglicher Regen, wie es ihn im Davor gab.“ (S. 212) Dies ist ein Gegensatz zu bisherigen Schilderungen der Umwelt. Am Anfang der Reiseetappe mit dem stummen Jungen geraten sie in ein so starkes Gewitter, dass ihre Leben bedroht waren. An anderer Stelle isst der der Junge gierig einen Pilz, was Mhairi entsetzt. „Nicht mal Papa konnte immer sagen, welche Pilze giftig waren.“ (S. 51) Und ihre Gefangennahme bei ihrer Ankunft auf schottischem Boden verdanken sie der Überquerung eines Flusses. Eine Mitleserin bei Twitter schrieb dazu: „Total spannend, wie hier kontrastiert wird: Einerseits ist die Natur etwas Schönes (die Gärten), andererseits ist die Natur bedrohlich (Gewitter z.B.). Mir gefällt, dass es nicht nur eine einzige Perspektive gibt. Es werden zwei Seiten dargestellt.“
Die Gärten treten jedoch interessanterweise nur gedanklich in Erscheinung. Immer wenn Mhairis verdrängte Erinnerungen sie einzuholen drohen, ruft sie innerlich laut „FESTUNG“ und verschließt die Bedrohung wieder dort: „Es gibt nur einen Ort, um etwas sicher wegzusperren. Festung. Festung hat viele Tore und viele Mauern und viele Gärten.“ (S. 16) Es scheint ein virtueller Ort zu sein, ein Konzept, das Mhairi von ihrem Vater übernommen hat. Denn auch ihr Vater sprach von Gärten und den schönen Blumen darin. „Ich nehme es als Erzählstrategie der Erzählerin wahr, die die erlebten Dinge noch nicht aussprechen kann. Stückweise kommen Details ans Licht, dennoch kann sie nicht verbalisieren, was ihren Eltern passiert ist. Daher deute ich das Verfahren als Ausdrucksmittel für ein Trauma“, schildert ein andere mitlesende Twitter-Userin ihre Eindrücke zu den FESTUNG-Ausrufen.
Sobald Mhairi und ihr Begleiter über die Grenze kommen und in Schottland unterwegs sind, ist die Natur wieder freundlich. Ein normaler Regen, statt monsunartige Güsse mit riesigem Hagel im Anschluss. „Schottland schien mir auch sehr idyllisch, ein Gegenpol zum Rest der beschriebenen Welt. Aber dort wird es doch auch Klimaveränderungen gegeben haben? […] Mich hätte auch interessiert, wie es im restlichen Norden aussieht“, schreibt eine Mitleserin in der Buchclub-Leserunde.
„Jedes Jahr sterben weitere Tierarten aus“, zitiert Mhairi ihren Vater (S. 23), in der Arktis bildet sich kein neues Eis – die Welt wird für die Menschen mehr und mehr unbewohnbar. Das ist das „Danach“ aus dem Titel. Aber was konkret dazwischen lag, wird nicht benannt. Es lässt sich erahnen und scheint für uns Leserinnen und Leser nicht so weit entfernt – immerhin ist die Erderwärmung leider auch für uns schon ein Dauerthema.
„Etwas Größeres als wir selbst“
Neben vielen spannenden Aspekten des Buches, die im Februar auf Twitter diskutiert wurden, ist ein Thema noch besonders hervorzuheben: die Konsequenzen, die sich aus der Klimaveränderung ergeben. Im Kapitel 92 „Etwas Größeres als wir selbst“ fordert Mhairi ihre Großmutter – Vorsitzende des Rates auf der inzwischen unabhängigen Insel Arran – heraus, darüber zu reden, warum der Junge abgeschoben werden muss. Warum er nicht einfach bleiben kann. Warum die vielen Menschen auf dem Festland in Zeltstädten hausen, während auf der Insel doch alles im Überfluss vorhanden zu sein scheint. Ist „das Gemeinwohl“ eine adäquate Antwort darauf? Dass deswegen kein einzelnes Leben mehr zählt? Das veränderte Klima hat den Lebensraum für alle Menschen (und Tiere) dezimiert. Um die verbleibenden Ressourcen und Lebensräume möglichst lange zu erhalten, werden die Lebensjahre limitiert. Am Ende wird „die Nadel“ genommen:
„Die Nadel zu nehmen, sagt Papa, ist eine beinah vernünftige Lösung für ein schwieriges Problem. Dieses schwierige Problem besteht darin, dass es zu viele Menschen auf unserer zu heißen Welt gibt.“ (S. 132)
Eine Mitleserin schrieb auf Twitter dazu: „Ich finde es immer noch ganz schwer, das zu bewerten. In dieser Welt gibt es zu viele Menschen, aber Geburt und Herkunft sind entscheidend dafür, ob und wie lange man leben darf. Gäbe es Alternativen? Lösungen? Da man die erzählte Welt nicht besser kennt, schwer zu sagen.“
Dystopisch?
Die dystopisch geschilderten Auswirkungen des Klimawandels sind spannend und erschreckend. Die sehr kurzen Kapitel sorgen für Übersicht und die Ich-Erzählung lässt sich schnell lesen. Der Inhalt ist dafür weniger leicht verdaulich. Es ist ein brandaktuelles Thema, schauen wir auf die seit Jahren und Jahrzehnten aktuelle Klimakrise und ihre Auswirkungen auf die Menschheit, die Folgen für die Erde. Unweigerlich stellt man sich beim Lesen die Frage, ob dies unsere Dystopie ist.
Alle Tweets rund um „Davor und Danach“ können bei Twitter unter https://twitter.com/bookzoomclub im Februar nachgelesen werden. Damit ging es los:
Heute geht es um die ersten 27 Kapitel von "Davor und Danach" – das sind 97 Seiten. Wer liest denn alles mit? Auf wen darf ich mich freuen? #bookzoomUmwelt pic.twitter.com/xSTMsYABNa
— Bookzoom (@bookzoomclub) February 3, 2020
Davor und Danach. Nicky Singer. Aus dem Englischen von Birgit Salzmann. Dressler Verlag. 2019.
[tds_note]Ein Beitrag zum Special #BKUmwelt. Hier findet ihr alle Beiträge.
Foto & Illustration: Satzhüterin Pia[/tds_note]
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