Barney Norris‘ Debütroman „Hier treffen sich fünf Flüsse“ hat Worteweberin Annika sehr überzeugt. Daher war sie auf das nächste Buch mehr als gespannt. Leider hat „Die Jahre ohne uns“ ihre Erwartungen aber nicht erfüllt.
Der Einstieg in „Die Jahre ohne uns“ ist vielversprechend: In ihrem Zuhause lernen wir eine ältere Frau kennen, die ihre Erinnerungen zu einer poetischen Enzyklopädie verdichtet. Erinnerungen vor allem an die Kindheit und daran, wie der Vater eines Tages plötzlich die Familie verließ, sind poetisch immer wieder in die Erzählung eingeflochten. Dann erfahren wir, dass die Frau psychische Probleme hat, sie wird mit Elektroschocks behandelt. Wir werden zunehmend neugierig, was der Frau geschehen ist, was auf sie zukommt. Die Frau betritt eine Bar, trifft dort auf einen Fremden – und jetzt kommt der Haken: Die Perspektive wechselt.
Erzählt wird in „Die Jahre ohne uns“ nämlich eine typische Rahmen-Binnen-Erzählung. Der Mann in der Bar erzählt der Frau, und uns Leserinnen und Lesern, seine Lebensgeschichte – eine äußerst kuriose Geschichte! Nach einem Streit mit seiner Frau ging der Mann durch eine Tür und wechselt seitdem zwischen verschiedenen Leben, in denen er als Zaungast Minuten, Stunden, Tage oder auch Wochen verbringt. Die Leben, in die der Mann eintaucht, werden aus seiner Warte sehr ausführlich geschildert – ohne besonders spannend zu sein. Und die ganze Zeit fragte ich mich beim Lesen, wann es jetzt endlich mit der Frau weitergehen würde, die mich schließlich viel mehr interessierte. Doch wenn im Roman die Perspektive endlich wieder wechselt, dann nur, um eine völlig unvorbereitete Wendung zu nehmen, nach der der Roman endet.
„Jede Tür, durch die wir gehen, ist die Tür zu einer neuen und anderen Welt, weil die Vergangenheit das nun einmal so an sich hat, sie ist permanent im Verschwinden begriffen. Wir betreten ständig Neuland, Minute für Minute, und lassen die Dinge, die wir erlebt haben, zurück, und wir belügen uns selbst, wenn wir etwas anderes behaupten.“ (S. 178)
Mit diesem Aufbau funktioniert Norris‘ neuer Roman mehr schlecht als recht. Natürlich ist die Geschichte des Mannes interessant, doch um sie richtig zu erzählen, hätte man mehr in die Tiefe gehen müssen, der Frage nach der subjektiven Wahrheit auf den Grund gehen müssen. Für mich ist es vor allem die Geschichte der Frau, die auserzählt hätte werden sollen. Die losen Fäden machen neugierig genug, um alleine zu funktionieren. Auch für das Spinnen einer Geschichte über das Vergehen von Zeit und unser Erleben von Wirklichkeit hätte es die kuriose Handlung der Binnengeschichte nicht gebraucht, denn das Thema wird im ersten Teil, zum Beispiel in den Auszügen aus der Enzyklopädie, subtiler angesprochen.
„Jegliche Behältnisse, in die wir unser Leben gießen, erscheinen zu klein, verglichen damit, wie es sich anfühlt zu leben, von Energie durchströmt zu werden, verglichen damit, wie die Dinge wirken, wenn man morgens aus dem Fenster starrt.“ (S. 22)
Insbesondere im ersten Teil kommt auch Barney Norris‘ Sinn für die Sprache und die schönen Bilder zur Geltung, wenn er zum Beispiel ein Geheimnis „so weich wie das Innere von Artischocken“ (S. 51) beschreibt. Zumindest an diesen Stellen habe ich mich an sein Debüt erinnert gefühlt. Ansonsten ist „Die Jahre ohne uns“ leider kein Roman nach meinem Geschmack.
Die Jahre ohne uns. Barney Norris. Aus dem Englischen von Johann Christoph Maas. Dumont. 2021.
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