Krimis sind voller Geheimnisse. Gelegentlich sind die Autoren ebenfalls mysteriöse Fälle, die sich aber keinesfalls alle aufklären lassen. So auch Agatha Christie. In „Agathas Alibi“ bietet Andrew Wilson eine kreative Erklärung für das große Rätsel in ihrem Leben. – Von Zeilenschwimmerin Ronja
An einem kalten Dezembermorgen im Jahre 1926 wird in Newlands Corner in der Grafschaft Surrey ein verlassenes Auto gefunden. Doch von der Fahrerin fehlt jede Spur. Insgesamt elf Tage lang bleibt Agatha Christie verschwunden. Das ganze Land verfolgt aufgeregt die täglichen Nachrichten zum Verschwinden der bekannten Kriminalschriftstellerin. Zahlreiche Gerüchte sind im Umlauf. Schließlich wird Agatha Christie in einem Hotel in Harrogate gefunden. Die Familie gibt bekannt, Mrs. Christie habe einen kurzzeitigen Gedächtnisverlust erlitten. Dies ist bis heute die einzige offizielle Stellungnahme zu jenen Dezembertagen.
Das lässt natürlich großen Spielraum für die Phantasie. Was war der Auslöser für den Gedächtnisverlust? Wieso fuhr Agatha Christie ausgerechnet nach Harrogate? Warum ließ sie ihr Auto in einer spärlich besiedelten Gegend zurück? Weshalb meldete sie sich ausgerechnet unter dem Nachnamen der Geliebten ihres Ehemannes im Hotel an? Und was war in dem mysteriösen Paket, das sie während ihrer Zeit dort erhielt? Diese und noch viele weitere Fragen muss Andrew Wilson sich auch gestellt haben, als er sich dazu entschloss, einen Roman über jene Tage zu schreiben. Mit der Queen of Crime, wie Agatha Christie immer wieder (zu Recht) betitelt wird, als Hauptfigur.
Wirklichkeit wird zur Fiktion
Agatha Christie (die Roman-Agatha) ist wegen einiger Termine und Weihnachtseinkäufen in London unterwegs, als sie fast auf die U-Bahn-Gleise gestoßen wird. Im letzten Moment wird sie zurückgerissen. Doch der vermeintliche Helfer erweist sich schnell als Bedrohung. Kaum drei Tage später wird ihr Auto verlassen aufgefunden. Polizei und Familie haben jeweils eine eigene Theorie, was geschehen ist. Doch niemand ahnt, dass ausgerechnet die Kriminalschriftstellerin zur Spielfigur eines Verbrechens geworden ist.
„Der Hang war alles andere als steil, doch sobald der Wagen Geschwindigkeit aufgenommen hatte, war seine Fahrt in den Abgrund unabwendbar. Die Dunkelheit zog ihn von mir weg in die Tiefe. Ich konnte hören, wie der Morris Cowley den Hügel hinunterrolle, durch Dornenranken und Gruppen von jungen Bäumen, durch Farngestrüpp und morsches Holz krachte. Es klang entsetzlich, wie ein zu Tode gehetztes Tier. Das Getöse nahm Besitz von mir, vibrierte in mir. Es fühlte sich an, als bewegte sich die Erde unter meinen Füßen und barst.“ (S. 72)
Andrew Wilson beschäftigt sich schon seit einigen Jahren mit Agatha Christies Leben und Werk. Als Journalist und Autor mehrerer Biographien, darunter auch zwei zu den Schriftstellerinnen Patricia Highsmith und Sylvia Plath, hat er bereits viel Erfahrung mit dem Schreiben von journalistischen und biographischen Texten. „Agathas Alibi“ ist dabei erst sein zweiter Roman. Dass Wilson sich schon länger mit Christie beschäftigt, ist dem Roman positiv anzumerken. Die Handlung ist an die bekannten Fakten (die auch auf den letzten Seiten des Buches aufgeführt werden) ihres Verschwindens angepasst. Auch andere Aspekte sind gut recherchiert oder erscheinen zumindest sehr glaubwürdig. Gerne verweist Wilson auch auf die ersten Romane, die Christie bis 1926 veröffentlicht hatte, allen voran ihr damals neuester und wegen seiner innovativen Auflösung gefeierter Roman „Alibi“.
Ein gemäßigter Agatha-Christie-Thriller
Agatha begegnet den Lesenden als Ich-Erzählerin. Selbstverständlich gehört ihr der Löwenanteil des Romans, durch den ihre Persönlichkeit und ihre Emotionen besonders gut nachzuvollziehen sind. Es gibt jedoch noch zwei weitere Sichtweisen auf das Geschehen: die der Polizei und jene der jungen Una Crowe, die sich als Journalistin versuchen will. Durch Agathas persönlichen Bericht besteht immer ein Wissensvorsprung gegenüber der Polizei und Una. Dennoch sind auch diese Abschnitte nicht langweilig oder überflüssig. Sie zeigen vielmehr die Reaktionen der Familie und der Außenwelt. Zudem liegt der Fokus der Geschichte auch nicht auf der Aufklärung eines Verbrechens, sondern vielmehr auf der Frage, ob und wie Agatha sich wieder aus ihrer Zwangslage befreien kann.
„Agathas Alibi“ folgt also nicht dem typischen Aufbau eines Agatha-Christie-Krimis, sondern eher dem eines Thrillers. Doch durch seine gemäßigte Art und den allgemein eher ruhigen Stil des Romans, ist er eine gute Mischung aus Christie-Krimi und Thriller-Elementen.
„Agathas Alibi“ überzeugt mit einer gelungenen Verarbeitung und Auslegung von Fakten in der Mischung mit einer spannenden Geschichte. Der Roman ist flüssig zu lesen und besonders – um die Widmung zu zitieren – „für Agatha-Christie-Fans in aller Welt“ zu empfehlen.
Agathas Alibi. Andrew Wilson. Übersetzung: Michael Mundhenk. Pendo Verlag. 2017.
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