Sie lag lange vergessen im Dunkeln, bevor sie die Augen öffnete.
Sie hatte gewartet, bis sie kein Murmeln mehr hörte, kein Atmen, das aus tausenden Mündern gleichzeitig zu kommen schien, bis auch die letzten knirschenden Schritte verklungen waren.
Nun wagte sie, sich zu bewegen. Langsam, als müsste sie sich ihres Körpers erst wieder bewusst werden, griff sie nach dem Holz, das sie begraben hatte. Mühevoll kämpfte sie sich zurück in eine Welt, aus der sie verschwinden wollte und die sich komplett gewandelt hatte, von einem Gemälde zu einer verschwommenen Schwarz-Weiß-Fotografie. Am Nachthimmel fehlten die Planeten, die Wanderer, die sie immer begleitet hatten. Auf der Erde hatte Schnee – so schien es ihr – alles Leben unter sich begraben.
Wie ein Schlag spürte sie die Kälte im Gesicht. Sie taumelte zurück und stürzte zwischen Holzstücke, die über den ganzen Hügel verteilt lagen, als könne der Schnee sie nicht verschwinden lassen. Sie griff nach einem gebogenen Stück. Weich lag es in ihrer Hand und war überraschend warm, als könne das Holz die Sonne nicht vergessen, die die Bäume einst so stark gemacht hatte.
Sie drückte das Holzstück an ihre Brust und schloss die Augen. Sie konnte sich noch erinnern, wie die Leiter immer weiter in den Himmel gewachsen war. Sie alle hatten das Holz gesammelt, bis ihr Werk bis in den Himmel reichte. Ganz instinktiv war klar gewesen, wer zuerst den Weg zur Sonne antreten sollte, wer folgte, wer zurückblieb. Sie wusste noch, wie sie spürte, dass sie nun folgen sollte und wie sie mit vollem Elan die ersten Sprossen nahm, immer weiter in den Himmel stieg. Sie merkte kaum, dass niemand mehr hinter ihr war. Irgendwann vernahm sie ein Knirschen, das beständig lauter wurde. Doch sie machte sich keine Gedanken, sondern setzte ihren Aufstieg fort.
Dann riss die Leiter direkt über ihren Händen auseinander. Sie langte nach oben, doch die nächste Sprosse war zu weit weg. Sie erstarrte, hielt sich an der Leiter fest, die langsam, Faser für Faser, auseinanderriss und in Richtung Boden sank.
Seitdem musste auf der Welt eine Ewigkeit vergangen sein.
Für sie war es jedoch nur ein Moment, der nicht länger dauerte als ein Lidschlag.
Vorsichtig öffnete sie die Augen, kehrte aus ihrer Erinnerung zurück in der Hoffnung, dass es doch nicht so schlimm wäre. Sie blickte sich um und sah überall nur eisiges Weiß. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Dass es so, wie es war, nicht richtig sein konnte: Sie war hier falsch. Und weil sie hier falsch war, musste es auch einen Weg dorthin geben, wo sie eigentlich hingehörte.
Das Holzstück, immer noch fest an ihre Brust gedrückt, schenkte ihr Wärme, während sie sich auf den Weg in den Wald machte. Schon von Weitem sah sie, wo sich die anderen Zurückgelassenen versammelt hatten. Mit festen Schritten ging sie auf sie zu, sicher, dass sie ein gemeinsames Schicksal verband. Dann blieb sie hinter den Bäumen stehen und beobachtete, wie sich der Atem der anderen in der Luft vermischte, wie sie die Luft teilten. Sie rückten immer näher zusammen, teilten ihre Wärme, während sie, die vergessen worden war, nicht bereit war, etwas von ihrer Wärme zu teilen. Sie sah, wie sie ein Knäuel bildeten, eins wurden. Sie wollte nichts lieber als Teil davon zu sein, doch sie verstand nicht, wie das gehen sollte. Sie erkannte, dass die anderen aufhörten, vor Kälte zu zittern und sich an das Leben im Schnee gewöhnten. Sie konnte nicht aufhören, sich an das Holzstück zu klammern, das ihr Wärme schenkte.
Weil sie nicht wusste, was sie tun sollte, blieb sie einfach weiter stehen, das Holzstück immer fest an die Brust gedrückt. Sie beobachtete, wie sich einige von den Zurückgelassenen im Schnee vergruben. Dann passierte lange nichts. Irgendwann standen einzelne von ihnen auf und gingen davon, jeder und jede von ihnen in eine andere Richtung. Langsam fanden die Zurückgelassenen ihre Sprache wieder. Es bildeten sich Gruppen, die nacheinander aus dem Wald zogen. Am Ende blieb nur noch ein Junge zurück. Sie beobachtete ihn interessiert, spürte so etwas wie eine Verbundenheit – vielleicht weil er so einsam war wie sie, vielleicht weil sie eine Wärme bei ihm spürte, an die sie sich noch gut erinnern konnte. Schließlich öffnete er die Augen und stand auf. Er kam nicht zu ihr. Er lief auf die offene Schneefläche und verschwand schnell am Horizont.
Erst jetzt fühlte sie sich wirklich einsam, von allen verlassen, vor allem von der Hoffnung. Sie kehrte zur Lichtung zurück und legte sich dort zwischen die Holzstücke, die ihr ein wenig Wärme schenkten. Sie dachte immer wieder an die Sonne, die sie verloren hatte und an die Einsamkeit, die sie nun umgab. Manchmal löste sich eine Träne aus ihrem Auge. Es waren die letzten Tränen, die auf dieser Welt vergossen wurden.
Noch bevor sie zu Boden fallen konnten, gefroren die salzigen Tropfen zu Schneekristallen, die vom Wind hinweggetragen wurden. Manchmal wurden sie bis in die Stadt geweht und dort noch seltener von einem Schneeverwehten aufgefangen, den alle darum beneideten: Eine solche Schneeflocke wurde als ein Zeichen des höchsten Glücks verstanden.
Für ein Äon lag die Vergessene einsam und traurig im Schnee.
Dann fand eine Gruppe von Schneeverwehten zu ihr, die einem Mann in einem roten Gewand folgten. Er erzähle, dass er es vor langer Zeit in einem verlassenen Haus gefunden hatte, welches das Heim einer göttlichen Macht gewesen war.
Mit viel Inbrunst erklärten sie der Frau, die vergessen worden war, dass sie in alten Schriften von einer Sonne gelesen hatten, die eigentlich am Himmel stehen sollte. Dass in ihrer Welt nun ewige Nacht herrschte, hielten sie für einen Fehler, den sie bereinigen mussten.
„Wie soll das gehen?“, fragte die Vergessene voller Hoffnung.
„Mit Gebet’n“, antwortete der Mann im roten Gewand. Sie erklärten ihr, dass sie durch die Welt zogen und Gebetsformeln sammelten, Rituale und alte Schriften, die sie überall ausprobierten. Sie folgten den Anweisungen in den Schriften und richteten ihre Gebete an die verschwundene Sonne in der Hoffnung, dass sie wieder zu ihnen zurückkehren würde.
Der Prediger erkannte, dass auch die Vergessene Interesse an ihren Ideen hatte. Doch sie wollte dem Angebot, sich ihnen anzuschließen, nicht folgen. So ließen die Sonnenanbeter der Vergessenen ein Buch mit gesammelten Gebeten da und trugen ihr auf, regelmäßig zu beten, weil so vielleicht ihre geliebte Sonne zurückkehren würde.
Von da an kniete sie im Schnee, die Hände fest um das Stück Holz geschlossen, und murmelte Gebete. Es geschah zwar nichts, doch es schien ihr, als könne sie nichts anderes tun.
Irgendwann erschien eine weitere Gruppe bei ihr. Vorsichtig näherten sie sich ihr. Sie hielt es für Ängstlichkeit. Sie wussten vermutlich nicht, was sie von dieser Frau halten sollten. Schließlich setzten sie sich um sie und begannen ihr Fragen zu stellen. Als sie ihnen erklärte, dass sie gebetet hatte, damit die Welt wieder zu einem wärmeren Ort wurde, lachten sie. Sie hatten ebenso wie der Priester von der Sonne gelesen, die vom Himmel verschwunden war. Anstatt Gebete aus einer sonnendurchfluteten Zeit zu sammeln, wollten sie hingegen herausfinden, warum die Sonne verschwunden war, um so einen Weg zu ihr zurückzufinden. Sie waren Forschende.
Irgendwann erzählte eine von ihnen von einem Pendant zur Sonne, das sie im Inneren der Erde vermutete und das man unbedingt untersuchen sollte. Noch bevor sie mehr dazu sagen konnte, unterbrachen die anderen sie: Ihre Theorie sei haltlos, zu schwierig, zu gefährlich. Sie verstummte und in ihrem Blick war zu erkennen, dass sie die anderen nie ausreden ließen.
Die Forschenden fragten, ob sie einige der Holzstücke mitnehmen dürften. Obwohl der Frau, die vergessen worden war, nur ihr eigenes Stück wichtig war, verbot sie es zuerst. Die Forschenden boten ihr einige der Schriften an, die sie in den verlassenen Bibliotheken der Welt gesammelt hatten. Dann zeigten sie ihr Werkzeuge, die sie bei sich hatten. Nach langer Zeit konnten sie sich einigen und die Wissenschaftler gingen mit ihren Proben fort und diskutierten bereits, was sie von diesen warmen Hölzern halten sollten.
Die Vergessene blieb ruhig sitzen, bis sie die Stimmen und Schritte der Forschenden nicht mehr hören konnte. Dann nahm sie die kleine Schaufel, die die Forschenden ihr gegeben hatten, und begann zu graben. Sie konnte es nicht fassen, dass eine ganze Sonne unter ihren Füßen lodern sollte und doch war das Bild in ihr so stark, dass sie sich sicher war, dass es stimmte.
Also grub sie, immer weiter. Der Schnee rutsche irgendwann über ihr nach und verschloss das Loch, das das Letzte gewesen war, das noch an sie erinnerte. Die Welt vergaß sie, wie auch sie vergessen worden war.
Sie grub immer weiter, bis sie spürte, wie es um sie herum wärmer wurde. Sie verlor ihr Holzstück, das ihr zuvor das wichtigste auf der Welt gewesen war. Doch tief in ihrem Inneren hatte sie immer gewusst, dass es nur ein Ersatz war für eine Wärme, eine Hitze, die nun greifbar vor ihr lag.
Also vergaß sie die Holzstücke und grub weiter, bis sie endlich auf Feuer stieß. Sie hielt inne und fragte sich, ob das ein Tor zur Sonne war, zu der sie früher einmal, vor langer Zeit aufgestiegen war oder ob das eine eigene Sonne war, die nur ihr gehörte.
Sie würde es erfahren, denn nichts konnte sie nun noch davon abhalten, ihr Ziel, an dem sie schon vor Äonen hätte ankommen sollen, zu erreichen. Sie genoss die Wärme, die Hitze auf der Haut, als sie endlich mit der Sonne verschmolz.
Illustration: Seitenkünstler Aaron
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