Die Schönheit im Unbedeutenden

von | 05.12.2019 | #litadvent, Belletristik, Buchpranger, Specials

Wilson Bentley ist ein junger Bauer. Doch viel lieber, als sich um den Hof zu kümmern, sammelt er Schneekristalle. Bei dem Duft von karamellisiertem Ahornsirup bestaunt Geschichtenbewahrerin Michaela Schneekristalle in Titus Müllers „Der Schneekristallforscher“.

Vermont 1887. Wilson Bentley lebt mit seinen Eltern, seinem älteren Bruder und dessen Frau und Kind auf einem Bauernhof im kleinen Ort Jericho. Neben der täglichen Arbeit auf dem Hof gehört auch das Anzapfen von Bäumen zur Ahornsirupgewinnung und das Kochen des Sirups zur Zuckerherstellung dazu. Doch seine ganze Leidenschaft gehört Schneekristallen. Er fängt sie auf und fotografiert sie mit Hilfe eines Mikroskops.

Für die Bewohner von Jericho und seine Familie ergibt es keinen Sinn, was er macht. Es bringt kein Geld, um die Familie zu ernähren, und erfüllt auch sonst keinen erkennbaren Zweck. Und so ist Wilson ein Sonderling in der kleinen Dorfgemeinschaft. Auch wenn ihn viele um die Freiheit beneiden, die er sich nimmt, um zu tun, was er will. Lediglich bei seiner Mutter findet er Verständnis. Als er die neue Lehrerin Mina Seeley kennenlernt, hält auch sie ihn zunächst für verrückt. Trotzdem interessieren die Fotos von den Schneekristallen sie genauso wie der junge Mann und so beschließt Mina, ihn zu besuchen. Wilson war es bis jetzt nie so wichtig, einem anderen Menschen die Schönheit und das Besondere von Schneekristallen zu zeigen. Es gelingt ihm tatsächlich und zwischen beiden beginnt eine zarte Liebe zu wachsen.

„Er sah Schönheit, wo jeder achtlos an ihr vorüberging.“ (S. 41)

„Der Schneekristallforscher“ ist eine kurze Geschichte, die viel Kluges zu sagen hat. Da ist jemand, der anders ist, der sich für Dinge interessiert, die keinen Zweck zu haben scheinen und wird als Sonderling, verantwortungslos und weltfremd angesehen. Ein Mensch, der fähig ist, auch oder gerade über die kleinen und unauffälligen Dinge zu staunen und sie zu entdecken, ihre Schönheit zu sehen und der es für Wert hält, sie zu erforschen. Dafür muss er nicht einmal eine Universität besucht haben.

„Gehen Sie ihren Weg, ich beschwöre Sie. Lassen Sie sich von niemandem einreden, ein Schneekristall ist wertlos.“ Das ist eine Zeile aus Minas Brief. Und gibt es nicht für jeden seinen ganz persönlichen Schneekristall?

Wilson Bentley gab es wirklich. Er lebte von 1865 bis 1931 und gilt als Pionier der Schneeforschung.

Der Schneekristallforscher. Titus Müller. Adeo Verlag. 2013.

[tds_note]Ein Beitrag zum Special #litadvent. Hier findet ihr alle Beiträge.[/tds_note]
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