Drei wundersame Wesen – Ein Modärchen

von | 25.05.2016 | Kreativlabor

Drei wundersame Wesen

„Es war einmal…“ So beginnen wohl alle Märchen. Wie auch dieses. Nur: Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Märchen ist. Vielleicht ist es auch eine reale Geschichte, nur etwas ausgeschmückt. Nun also: Es war einmal an einem stürmischen Abend…

Der Regen schlug so wild gegen die Fensterscheibe, dass ich fürchtete, er könne sie einschlagen. Ein Sausen und Brausen, ein Ästeknacken. Die Bäume verbogen sich, laut brummte der Wind vor sich hin. Auf dem Balkon rollte ein Eimer hin und her, bewegt vom Wüten des Sturmes. Doch auch wenn mir das ständige Poltern auf die Nerven ging, so traute ich mich nicht vor die Tür. Der Wind würde mich noch wegfegen, so dünn und klein wie ich war. Also schloss ich mich in meinem Schlafzimmer ein, verkroch mich ins Bett und wartete, bis das Chaos vorüber war. Doch so einfach wollte der Sturm sich nicht geschlagen geben.

An diesem Abend begab es sich, dass mich drei wundersame Wesen besuchten. Wundersam mag zwar nach Wunder klingen, aber Wunder vollbringen – wie etwa den Sturm zum Schweigen zu bringen – das vermochte keines von ihnen. Das erste jedenfalls klopfte gegen 19.34 Uhr an meine Haustür.
Ich erinnere mich noch genau an die Zeit, denn ich hatte verwundert auf meine Uhr geschaut, weil ich dachte, es sei schon zu spät für Besuch. Allerdings beeilte ich mich nicht, die Tür zu öffnen. Langsam schlich ich durch meine Wohnung und spähte durch das Guckloch. Mein Besucher war von so hoher Statur, dass ich aus dem Guckloch heraus nur seine Brust erblicken konnte. Ein weiteres Klopfen seinerseits ließ mich aufschrecken, so laut war es vor mir. Zitternd überlegte ich, ob ich die Tür öffnen sollte. Wer war dieser Riese? Ich beschloss, meine Ängste zu überwinden und die Tür zu öffnen. Einen Spalt breit zunächst, sodass ich einen flüchtigen Blick erhaschen konnte. So könnte ich immer noch schnell die Tür zuknallen, wenn er mir nicht geheuer war.
„Hallo?“, fragte ich leise.
„Haaaaallo“, antwortete der Riese mit dunkler Stimme. So klischeehaft. Wie in jedem anderen Märchen. Riesen hatten immer eine tiefe Stimme.
Mein Blick fiel auf seine klatschnasse Kleidung und den kleinen See unter seinen Füßen. Erst dann wagte ich, ihm ins Gesicht zu sehen. Sicherlich könnt ihr euch vorstellen, wie er aussah. Wie ein Riese eben. Nur mit freundlichen Gesichtszügen. Aber wer kann schon sagen, ob Riesen gut oder böse sind, wenn man das denn überhaupt so einteilen kann. Ich glaube, es gibt weder Gutes noch Böses auf der Welt. Man muss einfach beides in einem sehen: gutböse. Oder: bösegut. Bei dem Gedanken musste ich grinsen, erinnerte mich dann aber plötzlich an die Anwesenheit des Fremden und wurde schlagartig wieder ernst.
„Wer sind Sie?“, fragte ich. Meine Stimme klang diesmal viel sicherer, was mich stolz machte. Ich kann also auch mutig sein, wenn ich will.
„Ich bringe ein Paket“, kam die Antwort. Darauf hielt der Riese mir ein Paket hin, ich nahm es verwirrt entgegen – welche Post brachte noch so spät Pakete vorbei? – und der Riese ging ohne ein weiteres Wort davon. Ich wollte ihn noch zurückrufen, ihm Fragen stellen, aber dazu war meine Verwirrung viel zu groß. Stattdessen betrachtete ich das Paket in meinen Händen, trat langsam rückwärts wieder in die Wohnung und schloss die Tür. Eine Weile überlegte ich, das Paket einfach stehen zu lassen. Wer weiß schon, was sich darin befand. Es könnte auch eine Bombe sein! Aber meine Neugier war einfach zu groß.

Ich setzte mich also wieder aufs Bett und begann, das Paket zu öffnen. Langsam und vorsichtig bewegten sich meine Finger. Ich gehöre zu den Menschen, die ihre Geschenke mit Bedacht öffnen. Schließlich könnte man das Geschenkpapier nochmal verwenden oder eben – wie in diesem Fall – ein Paket. Man kann so viel Geld sparen, wenn man nur Geduld mitbringt. Diese stieß an diesem Abend jedoch an ihre Grenzen. Ungeduldig zitterten meine Finger, mein Herz klopfte mir bis zum Hals, Schweiß brach auf meiner Stirn aus. Und dann sah ich, was sich darin befand. Doch das will ich euch, liebe Leser, an dieser Stelle noch nicht verraten. Das wäre doch langweilig. Ich kann euch aber versichern, dass mich das, was sich in dem Paket befand, sehr ins Grübeln versetzte. So sehr, dass ich mir erst einmal einen Kamillentee machen musste – denn dieser habe, so pflegte Großmutter immer zu sagen, eine beruhigende Wirkung – und darauf eine lange Weile in der Küche saß und ins Nichts starrte. Bis es abermals an der Tür klopfte.

Diesmal war ich weniger überrascht als beim ersten Mal. Dieser Abend war bisher schon sehr seltsam verlaufen, warum sollten die wundersamen Begebenheiten auf einmal enden? Ich schlurfte also erneut zur Haustür und schaute durch das Guckloch. Doch ich sah niemanden. Stirnrunzelnd ging ich wieder Richtung Küche. Kaum hatte ich mich hingesetzt, klopfte es erneut. Ich seufzte. Wer erlaubte sich da einen Klopfstreich? Genervt bewegte ich mich zur Tür, diesmal entschlossen, die Streichspieler davonzujagen. Mit einem schnellen Ruck öffnete ich die Tür und erblickte ein kleines Mädchen. Es war wirklich sehr klein, und so zart, mit goldenen Löckchen und feengleichem Gesicht. Auf diesem erschien ein Lächeln. Es fehlte nur noch, dass es anfing durch die Luft zu schweben und mit einem Stab glitzernden Staub zu verteilen. Aber natürlich darf eine Fee in keinem Märchen fehlen. Auch in diesem nicht.
„Hihihi“, lachte sie mit hoher, kindlicher Stimme. Dann hielt sie mir ein weiteres Paket hin. Zaghaft nahm ich es entgegen, worauf das Feenmädchen – genauso wie der Riese zuvor – sich umdrehte und ging. Diesmal verspürte ich allerdings keinen Wunsch, es aufzuhalten. Ich ahnte, dass nur das Paket meine Fragen beantworten könnte. Ich schloss also abermals die Tür, ging diesmal in die Küche und machte mir einen weiteren Kamillentee, bevor ich begann, das Paket zu öffnen.
Ja, die Geduld wurde an diesem Abend wirklich auf die Probe gestellt. Aber ich schlug mich tapfer und öffnete das Paket, ohne es aufzureißen. Ihr ahnt es schon: Ich werde nicht verraten, was sich darin befand. Ihr könnt euch aber sicher sein, dass es sich bei dem Gegenstand um etwas mir sehr Wichtiges handelte, sodass ich auch diesmal wieder in Grübeleien verfiel. Vor allem aber fragte ich mich, woher die wundersamen Wesen die Gegenstände hatten.

Nachdenklich schlürfte ich meinen viel zu heißen Tee und verbrannte mir die Zunge. Aber ich war so in Gedanken, dass mich das nicht weiter kümmerte. Ich hatte euch, liebe Leser, zu Beginn des Märchens erzählt, dass mich drei wundersame Wesen aufsuchten. Kurz vor Mitternacht war es dann also wieder soweit: Es klopfte.
Erwartungsvoll lief ich ein drittes Mal zur Tür und fragte mich, wer es diesmal war. Ich glaubte, ich sei abgehärtet und es könnte mich gar nichts mehr wundern, nachdem mich ein Riese und eine Fee aufgesucht hatten. Doch ich irrte mich. Übermütig riss ich die Tür auf und erschrak, als ich einen Wolf vor mir sah. Seine Augen blickten mich jedoch so mitleiderregend an, dass ich mich sofort wieder fasste. Dann entdeckte ich den Schlüssel um seinen Hals. Das Tier winselte, legte sich auf den Rücken und rollte hin und her. Ich kannte mich mit Wölfen zu wenig aus, um sagen zu können, ob das ein normales Verhalten war, aber was war schon normal. Irgendwann verstand ich aber an seinen windenden Bewegungen, dass sich der Wolf von der Kette befreien wollte, es aber nicht konnte. Ich fasste Mut und näherte mich dem Tier.
„Alles gut“, sagte ich leise, mehr zu mir selbst als zum Wolf. Meine Finger gruben sich in sein Fell. Es war so angenehm weich. Erst später fiel mir ein, dass es nicht nass vom Regen gewesen war, was das Tier damit noch wundersamer machte.
Kaum hatte ich den Wolf von der Kette befreit, rannte er davon. Während ich ihm nachblickte, spielte ich mit der Kette und dem daran befestigten Schlüssel in den Fingern. Mit diesem Gegenstand schloss sich der Kreis. Mir war klar, was das alles zu bedeuten hatte, ich wollte es nur nicht wahrhaben. Einen Moment verharrte ich zwischen Tür und Angel und es war mir als befände ich mich zwischen den Welten. Wie wundersam dieser Abend war. Ich weiß noch, wie ich damals gen Himmel blickte und feststellte, wie viele Sterne leuchteten. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sich der Sturm gelegt hatte. Die Nacht war von einer so plötzlichen Stille erfüllt, dass ich glaubte, zu träumen. Vielleicht tat ich es auch.

Nach einer geraumen Weile kehrte ich in die angenehme Wärme zurück und schloss die Tür zur magischen Welt hinter mir. Auf meinem Schreibtisch verbreitete ich die drei Gegenstände: ein Manuskript mit leeren Seiten, ein Stift und ein Schlüssel. Letzteren nahm ich in die Hand, betrachtete ihn verträumt und erinnerte mich, ihn weggeworfen zu haben. Damals hatte ich geglaubt, das, was ich liebte, in eine Schublade legen und für immer verschließen zu können. An diesem Abend aber hat mich eben jene Vergangenheit wieder eingeholt.
Ich seufzte und öffnete die Schublade. Wie gerne hätte ich dieses Märchen mit „verstaubten, alten Manuskripten“ ausgeschmückt – denn das würde die Mystik noch etwas verstärken – doch ihr würdet sicher merken, dass das in einer seit Jahren verschlossenen Schublade nicht möglich war. Und schließlich will ich euch ein reales Märchen erzählen.
Alt waren die Manuskripte wirklich. Erinnerungen stiegen in mir hoch, als ich nach den Bündeln Papier griff und die Arbeitstitel las. Geschichten, die ich nie zu Ende geschrieben hatte. Weil man mir gesagt hatte: „So etwas gibt es schon!“ Oder: „Das ist so kitschig!“ Oder: „Schließ‘ mit der Vergangenheit ab!“ Und das hatte ich dann auch getan. Irgendwann hatte ich all meine unvollendeten Geschichten in diese Schublade gelegt und nie wieder angerührt. Dass ausgerechnet diese drei wundersamen Wesen vorbeigekommen waren, war alles andere als Zufall. Ich betrachtete meine Geschichten: „Der Wolf und der Zauberer“, „Vom Riesen, der das Weinen lernte“ und „Die erstaunlich starke Fee Feola Feelala“.

Erfüllt von Sentimentalität lehnte ich mich, auf dem Boden sitzend, an die Wand und begann, die Geschichten zu lesen. Was dann geschah, das könnt ihr euch sicherlich denken, liebe Leser. Denn wie der Besuch der wundersamen Wesen gezeigt hat: Nicht die Autoren entscheiden über den Verlauf und den Ausgang einer Geschichte, sondern deren Figuren, ganz gleich, was andere von ihnen halten. Und da die wundersamen Wesen nicht im Dunkeln der Schublade gestorben sind, leben sie noch heute glücklich und zufrieden in unseren Köpfen…

Ende.

Text: Zeichensetzerin Alexa
Illustration: Buchstaplerin Maike

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2 Kommentare

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    spannend, schön! 😉

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    • Avatar

      Danke!

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Trackbacks/Pingbacks

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