Du hast doch (k)einen Schatten!

von | 18.10.2017 | #Todesstadt, Kreativlabor, Specials

Jeder Mensch hat einen Schatten. Der folgt ihm auf Schritt und Tritt und hat erst mal nichts Ungewöhnliches an sich, denn normalerweise befolgt er die Gesetze der Physik und ist ruhig und artig. Bis die Literatur ins Spiel kommt, denn dann treiben Schatten allerhand Schabernack und können sogar richtig unheimlich sein. Worteweberin Annika hat herausgefunden, dass man sie in bestimmten Texten als eine Variation des Doppelgängermotivs nach Sigmund Freud betrachten kann.

Literarische Schatten

Schatten und Schattenlosigkeit sind insbesondere seit der Romantik ein wichtiges Motiv in der Literatur. Erstmals als Hauptmotiv tauchte der Schatten in Adelbert von Chamissos „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ auf. In seinem Märchen „Der Schatten“ von 1847 griff Hans Christian Andersen das Motiv wieder auf. Gleichzeitig entwickelte sich bei Andersen die Schattenlosigkeit erstmals zum Motiv des Doppelgängers weiter.

Die Handlung des Märchens lässt sich verkürzt wie folgt zusammenfassen: Der Protagonist im Märchen, ein Gelehrter, reist in den Süden und schickt dort eines Abends seinen Schatten los, um das Haus gegenüber zu erkunden, in dem er eine schöne Frau vermutet. Erst nach Jahren kehrt der Schatten zurück. Nun ist er ein Mann geworden. Sein alter Herr lebt inzwischen wieder im Norden und arbeitet dort als Schriftsteller. Der Schatten bringt seinen ehemaligen Herrn dazu, nun selbst Schatten zu werden. In Folge dessen wird der Gelehrte krank. Er folgt seinem ehemaligen Schatten schließlich trotz einigen Sträubens auf eine Reise, auf der der ehemalige Schatten eine Prinzessin kennenlernt. Weil der Gelehrte seinem Schatten bei seinen Plänen mit der Prinzessin im Weg ist, wird er schließlich hingerichtet.

Einer oder zwei?

Was ist nun eigentlich ein Doppelgänger? Für Sigmund Freud kann ein Doppelgänger verschiedene Ausprägungen finden: Entweder ist es jemand, der einer anderen Person sehr ähnlich sieht oder mit den Gedanken des anderen verbunden ist. Auch das Gewissen kann für Freud ein Doppelgänger sein, das dann vom Ich einer Person getrennt auftritt. Eine andere Form des Doppelgängertums ist für Freud die Bündelung aller unverwirklichten oder verdrängten Eigenschaften und Entscheidungen einer Person, die von der Fantasie festgehalten werden.

Ein Doppelgänger in beiden dieser Ausprägungen kann einerseits ein anderer Mensch sein, was zum Beispiel aus der Zwillingsliteratur bekannt ist. Doch in der modernen Forschungsliteratur wird auch der Schatten oft als eine Form des Doppelgängermotivs erkannt. Ein Schatten als Doppelgänger wäre dann einer, der sich in seinen Taten und seinen Eigenschaften eigenständig macht. Der Schatten kann sich aber nicht ganz von seinem ehemaligen Besitzer lösen und wird dabei zu einer verselbständigten Form der Reflexion über die eigene Person.

Schatten und Persönlichkeit

Begreift man die Persönlichkeit als einen akzeptierten, bewussten Teil, und einen nicht akzeptierten, oft auch nicht bewussten Teil, kann aus einem Schatten durch Abspaltung ein Doppelgänger werden. In einer Identitätskrise kann so ein schattenhaftes Gegenstück zur eigenen Person entstehen.

Dies lässt sich gut in Andersens Märchen „Der Schatten“ erkennen: Der Protagonist sitzt in einer entscheidenden Szene auf dem Balkon und beobachtet das Fenster gegenüber, hinter dem er ein wunderschönes Mädchen vermutet. Er schickt nun seinen Schatten los, anstatt selbst Kontakt zu ihr aufzunehmen. Der Schatten ist hier lebensfähiger als sein eigentlicher Besitzer, der sich nicht traut zu handeln. Später bestätigt sich das, als der Schatten die Prinzessin anspricht und ihr Herz gewinnen kann. In Liebesdingen ist der Schatten also überlegen, während ihm sein Besitzer in Sachen Bildung voraus ist. Hier kann man erkennen, dass der Schatten als Doppelgänger die nicht ausgelebten Eigenschaften des Gelehrten verkörpert, sowie andersherum dem Schatten die wichtigen Eigenschaften des Gelehrten fehlen.

Von Vampiren und Teufeln

Es erscheint dem Protagonisten des Märchens nicht besonders gefährlich, dass sein Schatten sich verselbstständigt, vielmehr wird der ehemalige Schatten später selbst zur Gefahr. Das Fehlen eines Schattens kennen wir heute auch als Zeichen des Vampirismus, und auch in diesem Zusammenhang erscheint es uns unheimlich – ebenso wie auch ein Doppelgänger. Genauso werden für gewöhnlich auch der Teufel, Gespenster und Dämonen schattenlos dargestellt – das könnte daran liegen, dass sie vom Menschen geschaffen wurden und dementsprechend schon selbst Schatten sind, also Projektionen unausgelebter Eigenschaften und Wünsche, die in diesen Fällen wohl typischerweise ins Grausame tendieren und auf bestimmte Figuren ausgelagert werden.

Eine Verbindung wird außerdem zwischen Schatten und Seele beziehungsweise Leben hergestellt: Wenn, wie oben beschrieben, der Schatten eine Projektionsfläche der Persönlichkeit ist, muss das Fehlen eines Schattens darauf hindeuten, dass ein Mensch seelenlos geworden ist, zum Beispiel weil er tot ist oder dem Tod zumindest nahe. Bei allen oben genannten Gestalten (Teufel, Dämon, Gespenst und Vampir) ist genau das der Fall. Das könnte auch erklären, warum dem Herrn in „Der Schatten“ ein neuer Schatten wächst, nachdem sein erster sich selbstständig gemacht hat: Er hat noch eine Seele und Wünsche (die er wahrscheinlich weiterhin nicht auslebt) und braucht dementsprechend auch einen Schatten.

Der Schatten. Hans Christian Andersen.
In: Märchen und Geschichten. Reclam. 2012.

Ein Fund aus der Todesstadt.

Zum Weiterlesen:

  • Gerald Bär: Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm. Amsterdam u.a.: Rodopi 2005.
  • Agnes Derjanecz: Das Motiv des Doppelgängers in der deutschen Romantik und im russischen Realismus. E.T.A. Hoffmanm, Chamisso, Dostojewskij. In: Diplomica Band 7. Hrsg. von Björn Bedey. Marburg: Tectum Verlag 2003.
  • Werner A. Disler: Ich, Selbst, innere und äußere Objekte. Lehrbuch der analytisch-selbstpsychologischen Imaginations-Therapie. Bd. 1: Theorie und Technik. Erweiterte Neuauflage. Berlin: Pro BUSINESS 2015.
  • Sigmund Freud: Das Unheimliche. Bremen: dearbooks 2013.
  • Leonhard Schlegel: Grundriß der Tiefenpsychologie. Bd. 4. Die Polarität der Psyche und ihre Integration. Eine kritische Darstellung von C.G.Jung. München: Francke 1973.
  • Andrew Webber: The Doppelgänger. Double Visions in German Literature. Oxford u.a.: Calendron Press 1996.
  • Gero von Wilpert: Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen Motivs. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1978.

Illustrationen: Buchstaplerin Maike

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

1 Kommentar

  1. Avatar

    Wirklich lesenswert und interessant!
    Schatten an sich haben ja auch etwas körperloses und verzerrtes an sich, wie man bei Schattenspielen auch in der aufkommenden Zeit des Kerzenscheins beobachten kann. Ein Thema, das auch gern in aktuellen Bilderbüchern und Graphic Novels eingebracht wird. Eine kleine Empfehlung: „Drei Schatten“, eine Graphic Novel, in der auch die Todesnähe lesbar ist.

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  1. Zur letzten Ruhe – Ein literarischer Friedhofsrundgang (Teil II) - […] dar­un­ter „Die klei­ne Meer­jung­frau“, „Des Kai­sers neue Klei­der“ oder „Der Schat­ten“. Au­ßer­dem liegt hier der Phi­lo­soph Sø­ren Kier­ke­gaard („Der…

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