Ein unmoralisches Angebot

von | 10.04.2014 | Kreativlabor

„Das ist es, das da hinten. Das Objektiv, das ich bestellt habe!“
Ich weiß nicht, was ich süßer finde, den Enthusiasmus und die Aufregung in deiner Stimme oder das Leuchten deiner Augen. Jedenfalls folge ich lächelnd mit Blicken deinem ausgestreckten Arm und schaue mir besagtes Objektiv an. Nicht, dass ich es uninteressant finden würde, doch ich kann mich nicht wirklich auf das Ding da in der Auslage konzentrieren. Ich finde es viel spannender, dir zuzuhören wie du so über deine Leidenschaft, das Fotografieren, sprichst. Als ich mir dann doch zumindest das Preisschild ansehe, bist du schon beim nächsten Schaufenster und hüpfst davor auf und ab wie ein kleines Kind. „Komm, das musst du dir ansehen…!“
„Himmlisch…“, denke ich nur, „…und so was von adorable.“
Als ich näher trete, zeigst du auf ein riesiges Objektiv: „Das wäre natürlich der Gipfel meiner Träume!!! Doch so viel Geld werde ich wohl nie übrig haben…“
Ich sehe auf das Preisschild. 7.000 Euro? Das kann doch wohl nur ein Witz sein, oder? Ich meine, das Ding ist schon ziemlich groß, aber 7.000 Euro…?
„Kommst du?“, fragst du mich, dich fünf Meter weiter nach mir umdrehend.
Ich nicke, noch einen letzten Blick in die Auslage werfend.

Keine zehn Minuten später stehen wir schon am Bahnhof. Ich begleite dich noch zur Gleise, wo dein Zug schon wartet. An der Treppe verabschieden wir uns. Kaum habe ich deinen Duft nicht mehr um mich herum, ist es, als erwache ich aus einer Trance, als falle ein Zauberbann von mir ab und eine leise Stimme flüstere traurig in mein Ohr: „Willkommen zurück in der realen Welt!“
Ich sehe dir nach wie du Richtung Zug gehst.
„Dreht er sich um, gibst du ihm noch eine Chance. Ansonsten war’s das…“ War das jetzt diese Stimme oder stammte das von mir? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Spielt das überhaupt eine Rolle? Es fühlt sich richtig an. Mit klopfendem Herzen sehe ich dir nach, hoffend, bangend. Ich sehe, wie du auf den Knopf drückst, der die Zugtür öffnet.
„Jetzt oder nie…“, denke ich.
Doch du steigst ein ohne dich nochmals umzudrehen.
Das war’s dann also.
Eine Erkenntnis, die mich ganze neun Monate gekostet hat.
Und die mich jetzt wie ein Schlag trifft.
Natürlich! Warum bin ich da nicht früher drauf gekommen?
Ich weiß schon eine ganze Weile, dass das mit uns nicht funktionieren kann. Wie lange? Ich würde mal schätzen, seit etwa fünf Monaten.
Warum ich nicht damals schon einen Schlussstrich gezogen und das Kapitel beendet habe? Ich nehme an, weil ich nicht sehen wollte, wie es um uns stand. Ich habe doch so viel Hoffnung in dich gesetzt. Wahrscheinlich zu viel. Wieder mal.
Liegt es an dir oder an mir? Braucht es überhaupt einen Sündenbock? Ich bin so verwirrt.
Ich wünschte nur, du würdest fühlen, was ich fühle und wissen, wie du auf mich wirkst. Du versetzt mich mehrmals. Du kommst zu spät. Du sagst: „Ich bin nicht der Mensch, der bei irgendetwas dabei bleibt.“ Du gibst Versprechen, aber hältst sie nicht ein. Leere Worte. Auf die Taten habe ich zu lange gewartet. Sie werden nicht kommen. Du hattest nicht nur eine Chance.
Oh, wie habe ich dich doch verteidigt. Gegen alle und die ganze Welt. Du warst mein großes Geheimnis, mein Schatz, den ich behütet habe. Die Ausreden für dich gehen mir nie aus. Auch jetzt noch versuche ich dich zu verstehen, dein Verhalten zu rechtfertigen. Doch so habe ich nicht nur allen anderen etwas vorgemacht, sondern auch mich selbst belogen und betrogen. Ich liebe dich. Doch ich kann nicht mehr.

Als ich auf dem Heimweg am Fotogeschäft vorbeikomme und mein Blick per Zufall auf dieses riesige, teure Objektiv fällt, kommt mir plötzlich eine Idee. Eine geniale, wenn auch unmoralische Idee. Aber immerhin weiß ich jetzt, wie ich dich ein für alle mal loswerden kann. Auch wenn ich das gar nicht will. Vielleicht brauchst du nur eine weitere Chance. Vielleicht änderst du deine Einstellung. Vielleicht… Nein, Schluss mit den Entschuldigungen. Ich muss mich jetzt um mich kümmern.

Ich sehe die Szene schon vor mir: Es klingelt an deiner Tür. Du öffnest. Vor dir steht der Postbote mit einem Paket für dich. „Achtung zerbrechlich.“ Du unterschreibst und öffnest das Paket noch auf der Türschwelle. Es ist das Objektiv, das du dir immer gewünscht hast, von dem du immer geträumt hast. Anbei findest du einen Zettel, auf dem steht: Die einzige Bedingung: Ich will dich nie wiedersehen.
Dramatisch, aber effektiv. Denn du wirst dich nicht für mich entscheiden. Du hast andere Träume, die dir wichtiger sind. Ich setze ja auch darauf, dass du dich nicht für mich entscheidest. Das ist unmoralisch? Kann schon sein. Aber was ist dann erst mit der Tatsache, dass du dich weigerst, auch nur die kleinste Verantwortung zu übernehmen und ich mir mein Herz selbst brechen musste? Das finde ich unmoralisch. Und dass ich deinetwegen alle belügen musste und nun allein damit zurechtkommen muss.
Einen kurzen Moment lang male ich mir aus, wie es wohl wäre, wenn du meinen ganzen Plan einfach so über den Haufen werfen würdest. Wenn du dich doch gegen das Offensichtliche und für mich entscheiden würdest. Wie lange werde ich wohl darauf warten? Ich gebe dir eine, höchstens zwei Wochen. Das ist aber auch schon alles. Dann war’s das endgültig. Keine Spielchen mehr, keine Chancen, kein Warten, keine Selbstmanipulation. „Bitte dreh dich zu mir um…“, bete ich, als ich das Paket aufgebe.

Ich stehe am Bahnhof. Die Türen öffnen sich. Ein kleiner Junge, kaum drei Jahre alt, steigt aus und sieht mich an. Seine wuscheligen Haare und seine Augen erinnern mich an dich. Ob du wohl so ausgesehen hast, als du ein Kind warst? Der Kleine hat hinter seinem Rücken etwas versteckt, das er nun hervorzieht. Es ist ein Spielzeug-Fotoapparat. Ich fühle einen Stich in der Magengegend. Als seine Mutter den Kleinen auch noch mit deinem Namen ruft, wird es mir der Zufälle zu viel. Blitzschnell drehe ich mich um und flüchte.
Das Paket müsste vor einem Monat bei dir angekommen sein…

Silvia

Foto © Roman Pretsch

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