Mit seinem Erstlingswerk „Tote Mädchen lügen nicht“ stellt sich Autor Jay Asher dem heiklen Thema Mobbing und dessen Folgen. Wo fängt Mobbing an? Was löst es bei den Opfern aus? Mit diesen und anderen Fragen werden die Leser konfrontiert. Geschichtenerzähler Adrian hat mit Protagonist Clay der Geschichte einer Toten gelauscht.
Als Clay Jensen am Nachmittag von der Schule kommt, lehnt ein Packet an seiner Haustür. An ihn adressiert, jedoch ohne Absender. Der Inhalt ist ein Schuhkarton mit sieben Kassetten, welche auf der A- und der B-Seite mit Nummern beschriftet sind, dreizehn an der Zahl.
Neugierig legt Clay die erste Kassette mit der Nummer eins ein und hört eine Stimme, welche er glaubte, nie wieder zu hören: die von Hannah Baker, live und in Stereo. Hannah hat sich das Leben genommen und da er sich nun diese Kassetten anhört, ist Clay nach ihren Worten einer der Gründe dafür. Jedoch sind diese Bänder nicht für Clay allein bestimmt. Dreizehn Namen, dreizehn Geschichten, dreizehn Gründe, warum Hannah Baker sich das Leben nahm. Jede dieser dreizehn Personen soll diese Gründe erfahren und welche Rolle er oder sie dabei spielte.
Eine Kassette nach der anderen hört sich Clay Jensen an und bekommt einen Einblick in die dunklen Abgründe seiner Mitschüler. Demütigung, Bloßstellung, sexuelle Belästigung bis hin zu Vergewaltigung und so viele kleine und große Handlungen, die zusammen das Leben eines Menschen zerstörten. Dabei war doch eigentlich alles nur Spaß und nicht so ernst gemeint.
Die traurige Realitätsnähe
Die Erzählweise, welche Jay Asher in seinem Roman „Tote Mädchen lügen nicht“ wählte, könnte bei einigen Lesern vielleicht die Frage hervorrufen: Warum hat Hannah Baker vorher nichts dagegen getan, als sie noch lebte? Jedoch ist Ashers Variante um einiges näher an der Realität, denn wie in vielen Fällen muss das Kind erst in den Brunnen gefallen sein, bevor überhaupt etwas getan wird. Im Roman ist Hannah Baker bereits tot. Erst jetzt hört man ihr zu und versucht, zu verstehen.
Gerade aus dem eben genannten Grund steht die tragische Protagonistin als Sinnbild für so viele Menschen – jung wie alt – die mit Mobbing zu kämpfen haben. Auch wenn sie nur die erdachte Figur in einem Roman ist, werden sich diese Menschen vermutlich teilweise in Hannah Baker wiedererkennen. Vielleicht kommt ebenso Lesern, welche Beteiligte an solchen Situationen waren, der Gedanke, ob und welche Rolle sie in dem Leben solch einer Person gespielt haben.
Ein nächtliches Kammerspiel
Eigentlich ist jede Person, deren Name auf den Kassetten fällt, ein Protagonist bzw. Antagonist in dieser Geschichte. Schließlich hat jeder auf diesen Bändern seinen Teil zu Hannahs Ableben beigetragen. Allerdings sind es Clay Jensen und Hannah Baker, die als Hauptfiguren in dieser Geschichte gesehen werden können. Zwar gibt es immer wieder Momente, welche außerhalb der Kassetten spielen, jedoch ist Clay die meiste Zeit in einem kammerspielartigen Szenario allein mit sich, seinen Gedanken und Hannahs Stimme in seinen Ohren.
Von Menschen und Monstern
Geht es nach den Figuren in diesem Buch, könnte man den Eindruck bekommen, eine normale Schule sei voll mit selbstsüchtigen Partyflittchen, asozialen Angebern und notgeilen Perversen. Einzig Clay Jensen scheint hier der Sympathieträger zu sein. Auch wenn er anfangs noch etwas klotzköpfig daherkommt, wenn er beispielsweise blöde Sprüche macht.
In diesem Buch soll keine Tat entschuldigt und kein Täter in Schutz genommen werden. Aussagen wie „eigentlich ist er ja ein netter Mensch, aber…“ würden das Thema, welches hier behandelt wird, komplett ad absurdum führen. Hier werden keine netten Menschen gezeigt, sondern direkte Kritik an Mobbing und den Tätern geübt.
Pädagogisch wertvoll oder Anleitung zum Unglücklichsein?
Es ist offensichtlich, dass dieses Buch eine enorme Bereicherung für die Präventionsarbeit gegen Mobbing ist, da es meist eher schwer ist, die Ausmaße zu verstehen, wenn man nicht betroffen ist. Somit hat es einen hohen aufklärerischen Wert. Wie im Buch gut beschrieben, werden die Zeichen meist gar nicht erkannt, oder gar heruntergespielt.
„Tote Mädchen lügen nicht“ gibt einen guten Einblick in das Seelenleben eines Mobbingopfers und zeigt auf, wo Mobbing beginnt und wo es enden kann. Kleinste Aussagen wie „ist doch nur Spaß“ oder „hab dich nicht so“ infolge von blöden Sprüchen oder gemeinen Handlungen, sind wie Messerstiche für einen Menschen in solch einer Lage. Zudem wird ebenso klar, dass einen Aussagen wie „ich hab doch nichts gemacht“ oder „ich war das nicht“ genauso schuldig machen wie jene Menschen, die tatsächlich tätig werden.
Eine gute Idee wäre, dieses Buch als schulische Pflichtlektüre in den Unterrichtsstoff einzubetten. Eine Aufarbeitung mit einem Pädagogen zusammen könnte dazu führen, dass betroffene Menschen sich vielleicht mehr öffnen, Tätern ihre Handlungen und deren Konsequenzen vor Augen zu führen, und jene, die bisher entweder nichts getan oder mitgelacht haben, zum Denken anzuregen. Keine Schule ist mobbingfrei und wenn man Schüler schon dazu zwingt, etwas für die Schule zu lesen, so kann es doch auch etwas sein, das thematisch in ihren Alltag und zu ihren Problemen passt.
Darf das denn ins Fernsehen?
Im März 2017 veröffentlichte der Streamingdienst Netflix die erste Staffel der Serienadaption von „Tote Mädchen Lügen nicht“ unter dem gleichen Titel.* Die Serie folgt der Handlung des Buches, verändert jedoch einiges: den zeitlichen Rahmen, das Auftauchen von Personen und charakterliche Eigenschaften etc. So streckt sich die Zeit, in der Clay die Kassetten anhört, von Nachmittag und Nacht auf mehrere Tage. Ebenso wird das Schicksal von Hannahs Eltern etwas mehr beleuchtet, welches im Buch eher nebenbei erwähnt wurde. Die Serie legt im Allgemeinen mehr Wert auf die Ausmaße, die der Selbstmord einer so jungen Person auf ihr Umfeld hat.
Als die Serie startete, gab es viel Kritik, denn es wurde ihr unterstellt, sie romantisiere Selbstmord und könnte Nachahmer auf den Plan rufen. Zwar gab es einen Fall, der jene Stimmen bekräftigte, dennoch ist es schwer zu sagen, ob die Serie eher zur Nachahmung verführt als das Buch, welches schon mehrere Jahre auf dem Markt war, bevor eine Serienadaption überhaupt in Frage kam.
Positiv ist anzumerken, dass die Serie mehr Einblick in bestimmte Lebensbereiche außerhalb von Hannahs Wissen sowie das Transportieren der Handlung in die heutige Zeit ermöglicht. Hierdurch wird die Geschichte durch Themen wie Cybermobbing ergänzt.
Etwas skeptisch ist jedoch die starke Amerikanisierung zu betrachten, welche die Serie zum dramaturgischen Aufbau actionreicher gestaltet sowie in manchen Fällen sehr kitschig wirken lässt – beispielsweise das Stilmittel, die tote Hannah immer wieder auftauchen und wieder verschwinden zu lassen.
Unter der Streckung der Handlung von ein paar Stunden auf mehrere Tage leidet zudem die im Buch prägnante Intensität, in der Clay die Erzählung von Hannah erlebt. Hannahs Martyrium geht in der Serie etwas im Trubel des normalen Alltags unter und rückt beinah zu sehr in den Hintergrund.
Ein Schlussstrich
Das Buch „Tote Mädchen lügen nicht“ geht unter die Haut und ist eine klare Empfehlung ab 13 Jahren bis ins hohe Erwachsenenalter – Netflix empfiehlt bei der Serie eine Altersfreigabe ab 16 Jahren. Zwar ist der Roman leicht zu lesen, da der Schreibstil einfach gehalten wurde, sodass man als Leser schnell in einen angenehmen Lesefluss kommt. Jedoch ist es nicht leicht zu verkraften. Asher zeigt in einem erschreckenden Realismus auf, wie grausam Menschen auf Kosten anderer sein können und wie hilflos man sich als Betroffener fühlt. Jenen, die Opfer von Mobbing sind oder waren, sei jedoch klar gesagt, dass sie hierin keinerlei Trost oder Genugtuung finden werden. Für Betroffene wäre es ratsam, mit einer Vertrauensperson über die Empfindungen beim Lesen zu sprechen, da es vielleicht negative Gefühle hervorruft.
*Eine Rezension zur 1. Staffel ist bereits im „Uni-Special 2“ (2017) und zur 2. Staffel im „Uni-Special 3“ (2018) erschienen.
Tote Mädchen lügen nicht. Jay Asher. cbt-Verlag. 2009. / Tote Mädchen lügen nicht (Serie). Regie: Tom McCarthy, Helen Shaver, et al. Drehbuch: Brian Yorkey, Diana Son, et al. Netflix. 2017.
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