Eine Welt ohne Männer

von | 02.04.2024 | Belletristik, Buchpranger

Männer? Die gibt es nicht mehr in Lilly Gollackners neuem Roman „Die Schattenmacherin“. Hier sind die Frauen an der Macht. Worteweberin Annika hat die feministische Dystopie gelesen.

Die Sonne brennt so heiß, dass die verbliebenen Menschen eine Glaskuppel nicht mehr verlassen dürfen. Wasser ist knapp und rationiert, Pflanzen sind zu Raritäten geworden. Und seit dem „großen Sterben“ leben nur noch Frauen, während die Männer, inzwischen „Androtoken“ genannt, bloße Erinnerung sind. Babys entstehen nur noch im Reagenzglas. Das ist das Jahr 2068.

In diesem Setting beginnt der Roman „Die Schattenmacherin“ mit der Ankündigung einer großen Veränderung: Die Herrscherin Ruth, die diese Gesellschaft nach der geheimnisvollen, Männer tötenden Seuche aufgebaut hat, soll von der jungen Ania abgelöst werden. Ania begleitet die betagte Regentin also zu ihren Terminen. Sie wird von Ruth und ihren Kolleginnen in viele Geheimnisse eingeweiht – und beginnt, unbequeme Fragen zu stellen. Es beginnt ein Kampf um Macht und Wissen, ein flirrendes Katz-und-Maus-Spiel. Denn Ania glaubt: Man könnte die Männer zurückholen!

Zwei unterschiedliche Frauen

Lilly Gollackner entwirft ein interessantes Zukunftsszenario und vermag es gekonnt, durch Andeutungen und Erinnerungsfragmente von Ruth Spannung aufzubauen. Die wechselnden Perspektiven enthüllen nach und nach die Geschichte von der Abschaffung des Mannes: „Eine Frau zu sein, war das schon ein politischer Akt?“ (S. 48). Diese Frage stellt sich die junge Ruth noch, die wir in Rückblenden kennenlernen und die nach einem Krieg um die Ressourcen des Planeten eine klare Antwort auf ihre Frage findet: Ja!

Die Sympathien im Roman liegen hauptsächlich bei der jungen Ania. Obwohl auch Ruths Beweggründe für einige Entscheidungen durch ihre Vergangenheit deutlich werden, sind ihre Handlungen in der Gegenwart zunehmend drastisch. Verhält sie sich heute so, wie es früher die machthungrigen Männer taten? Während Ruth das Leben im Schatten liebt, bringt Ania Licht ins Dunkle. Hier hätte ich mir trotzdem noch mehr Ambivalenzen gewünscht: mehr Unsicherheit über Anias Entscheidung, noch mehr Verständnis für die alte Ruth.

„Und wenn wir sind, dann sind wir alles, und wir sind alles zugleich. Stürzende Flüsse und fallende Planeten, der Himmel und die Erde und alles darin. Wir sind lärmendes Chaos, das sich zu klaren Gedanken formt, und wir sind pulsierende Stille, die uns wachsen lässt.“

(S. 110)

Erzählt ist der Roman in einer feinen Sprache mit gelungenen Bildern und schönen Beobachtungen über das Leben, den Platz des Menschen auf unserem zerrütteten Planeten und unsere Gesellschaft. Dadurch wird aus der dystopischen Climate Fiction ein Roman mit Unterhaltungswert, Anspruch und Tiefgang. Immer deutlicher wird dabei: Auch in einer Welt ohne Männer gibt es Machtmissbrauch, Gewalt und Angst. Obschon hier für besondere Leistungen statt militärischer Abzeichen Schokolade verliehen wird (was für eine schöne Idee!) und einige gesellschaftliche Probleme gelöst wurden, sind andere entstanden. So wächst in Ania die Gewissheit, anders als Ruth handeln zu müssen.

Ein schnelles Ende

Über die Botschaft es Romans habe ich lange nachgedacht. Ohne hier zu viel verraten zu wollen, kommt das Ende nach einigen Wendungen sehr plötzlich und lässt die Leser*innen nach nur 192 Seiten mit einer schnellen Auflösung allein. „Die Schattenmacherin“ zeigt, dass drastische Lösungen nicht immer richtig sein müssen. Das hätte Lilly Gollackner im zarten Ton ihres Romans auch gerne auf 50 Seiten mehr ausdiskutieren dürfen.

Die Schattenmacherin. Lilly Gollackner. Kremayr & Scheriau. 2024.

Annika Depping

Annika Depping

Als Chefredakteurin versucht Annika in der Bücherstadt den Überblick zu behalten, was mit der Nase zwischen zwei Buchdeckeln, zwei Kindern um die Füße und dem wuchernden Grün des Kleingartens im Nacken nicht immer einfach ist. Außerhalb der Bücherstadt ist Annika am Literaturhaus Bremen mit verschiedenen Projekten ebenfalls in der Welt der Geschichten unterwegs.

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