Entscheidungsbasierte Spiele: Das Schicksal selbst in die Hand nehmen

von | 05.02.2017 | Entscheidungsbasierte Spiele, Spielstraße

Ob der Untergang einer ganzen Stadt verhindert, der eigene Sohn aus den Fängen eines Serienmörders gerettet oder Terroristen dingfest gemacht werden müssen – entscheidungsbasierte Spiele sind „in“. Erzähldetektivin Annette gibt einen Eindruck von der Vielfalt des Genres und überlegt, was Spieler eigentlich so an derartigen Spielen fasziniert.

Auch wenn ich jetzt vielleicht als uncool abgestempelt werde oder – noch schlimmer – gängige Frauenklischees erfülle: Ich spiele leidenschaftlich gerne „Die Sims“. Vor allem der dritte Teil des Lebenssimulators hat es mir angetan. Was gefällt mir daran so gut? Ich mag die Offenheit der Spielwelt und dass ich den Spielverlauf so stark beeinflussen kann. Denn mal ehrlich: Ohne uns wären Sims doch gar nicht lebensfähig, müssten sie eigene Entscheidungen treffen!

„Entscheidungen“ – das ist ein gutes Stichwort. Denn obwohl bei „Die Sims“ am laufenden Band bedeutsame Entscheidungen getroffen werden müssen – Welche Kariere schlage ich ein? Wohin möchte ich verreisen? Schicke ich meine Kinder zur Uni? Wie soll meine Katze heißen? Welchen Radiosender möchte ich hören? – gehört das EA-Game nicht zu den sogenannten „entscheidungsbasierten Spielen“. Unter diesem Begriff werden Spiele zusammengefasst, die einer stringenten Story folgen, dabei jedoch von den Entscheidungen des Spielers beeinflusst werden. Die in der Regel auf ein simples „Entweder-Oder“ heruntergebrochenen Entscheidungen haben nicht selten höchst moralische Implikationen und bestimmen stark den Charakter des Spiels.

Spätestens seit dem durchschlagenden Erfolg von „Heavy Rain“ (2010) erfreut sich dieses Genre großer Beliebtheit. Und auch wenn der Hit aus dem Hause Quantic Dream nicht der erste seiner Art ist, so hat er doch eine ganze Reihe weiterer Titel inspiriert: In „Life is strange“ (2015) muss die junge Max Caulfield den Untergang ihrer Heimatstadt verhindern, in „Until Dawn“ (2015) müssen acht Freunde eine Nacht voller Mord und Monstern überstehen und in „Dishonored“ (2012) nimmt Corvo Attano Rache dafür, unschuldig des Mordes beschuldigt worden zu sein. In diesen und diversen weiteren Titeln obliegt es dem Spieler, Entscheidungen zu treffen, die den Verlauf der Handlung ebenso beeinflussen, wie das Schicksal der Charaktere. Auch Game-Spin-Offs zu Serien wie „The Walking Dead“ drehen sich um die Entscheidungen der Spieler.

Auf große Kraft folgt große Verantwortung

Viele Gamer dürfte vor allem die Vorstellung eines „interaktiven Films“ reizen, die nicht selten als bewerbendes Versprechen gegeben wird. Die Spieler folgen einer Handlung fernab ihrer alltäglichen Lebenserfahrung, können mit dieser spielbaren Welt jedoch interagieren. Je realistischer dabei die Darstellung, desto leichter fällt das Eintauchen in diese Welt. Tatsächlich wird nicht nur die Grafik dieser Spiele mit viel Liebe zum Detail umgesetzt – im Falle von „Heavy Rain“ und seinem Nachfolger „Beyond: Two Souls“ (2013) beispielsweise unter Verwendung echter Schauspieler. Auch die Charaktere sind genau ausgearbeitet und entsprechend interessant zu spielen. Hier dürfte wohl auch der größte Unterschied zu einem Simulator wie „Die Sims“ deutlich werden: Während bei dem einen Spiel die Charaktere zwar steuerbar, aber in ihrer Darstellung eben doch nicht besonders realitätsnah sind, scheint es bei „Heavy Rain“ und Co. fast so, als habe man die Schicksale echter Menschen in der Hand.

Die Spieler tragen eine große Verantwortung auf ihren Schultern. Sie investieren emotional viel in Protagonisten und Handlung und bleiben schon deswegen bis zum Ende dabei, weil sie wissen wollen, ob die Entscheidungen richtig waren und die Sache gut für „ihre“ Charaktere ausgeht. Doch nicht immer haben die Entscheidungen wirklich einen derart großen Einfluss, wie die Entwickler es glauben machen wollen. So hat beispielsweise „Life is strange“ zwar einige nervenaufreibende Entscheidungs-Szenen. Letztendlich kommen Hauptcharakter Max und ihre beste Freundin Cloe jedoch in jeder Spiel-Variante am selben Endpunkt an, wo eine letzte Entweder-Oder-Entscheidung auf die Spieler wartet. Alle bis dahin getroffenen Entscheidungen wirken nun jedoch unnötig und nichtig. „Heavy Rain“ wartet hingegen mit 18 verschiedenen Enden auf. Beim Nachfolger „Beyond: Two Souls“ scheinen die im Spiel getroffenen Entscheidungen nicht ganz so wirkungsstark, doch können Spieler auch hier elf verschiedenen Enden erreichen, je nachdem, welchen Charakteren sie im Vorfeld das Leben gerettet haben.

Geheimtipps und Klassiker

So unterschiedlich die tatsächlichen Einflussmöglichkeiten der Spieler sind, so abweichend fallen auch die Bewertungen aus. In entsprechenden Foren wird heiß diskutiert, welche „Choice and Consequence“-Spiele denn nun wirklich in der Hand des Spielers liegen. Besonders häufig wird dabei auf Spiele verwiesen, die bereits einige Zeit vor „Heavy Rain“ auf den Markt gekommen sind, wie „The Witcher“ (2007), „Planescape: Torment“ (1999) oder „Ultima IV: Quest of the Avatar“, das bereits 1985 erschien. Auch „Alpha Protocol“ (2010) und „80 Days“ (2014) werden als Geheimtipps genannt. Und so verschieden die Bewertungen der Spieler sind, so vielfältig sind auch die Settings der Spiele. Alleine die genannten Titel spielen in fantastischen Mittelalterwelten mit Zauberern und Wiedergängern, der Anfangszeit des Christentums oder auch dem heutigen Saudi-Arabien.

Die Diskussionen und unterschiedlichen Bewertungen der Titel verdeutlichen, worum es den Spielern vor allem geht: Sie wollen Einfluss auf eine gut inszenierte Welt nehmen und das Schicksal interessanter, tiefgründiger Charaktere bestimmen. Je höher dabei der eigene Einfluss, desto besser gefällt das Spiel. Die Faszination besteht darin, eine Art filmische Geschichte nicht nur zu konsumieren, sondern Teil von ihr werden und sie verändern zu können. Einige dieser entscheidungsbasierten Spiele werden diesem Wunsch besser gerecht als andere. Doch an Qualität scheint es diesem Genre ebenso wenig zu mangeln wie an Quantität.

Um euch einen kleinen Einblick in diese Art des handlungs- und entscheidungsbasierten Spielfelds zu geben, werden wir euch in unserer Spielstraße einige Titel vorstellen, die uns besonders überzeugen konnten. In diesem Sinne: Lasset die Spiele beginnen!

Illustrationen: Seitenkünstler Aaron

Bücherstadt Magazin

Bücherstadt Magazin

Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

2 Kommentare

  1. Avatar

    Vielen Dank für den gelungen Einstieg in ein (wie ich finde) sehr komplexes Thema! So „uncool“ ist das mit dem Sims gar nicht, ich muss gestehen, dass ich mich früher auch unter den „Sims-Spielern“ probiert habe. 😉 (An meiner Geduld und der Doofheit einiger Sims bin ich dann doch aber kläglich gescheitert 😀 Vielleicht war es aber auch die grottige PS2-Variante, die mir den Einstieg nicht gerade erleichtert hat. )

    Ich selbst komme aus dem Bereich Game Studies und habe da so meine Probleme von „Interaktivität“ oder „Entscheidungsfreiheit“ zu sprechen, da Videospiele schon aus ihrer fest programmierten Struktur heraus eben doch sehr eingeschränkt sind. Die meisten Spiele, die mir eine riesige Entscheidungsfreiheit vorqaukeln wollten (insbesondere Interaktive Filme) haben mich da oft eher sehr enttäuscht – auch wenn ich „Heavy Rain“ sehr mochte. (Vielleicht bin ich da aber mittlerweile auch einfach zu verkopft.)

    Dazu eine Frage: Wo denkst du fängt denn ein entscheidungsbasiertes Spiel an? Muss das etwas sein, in dem der Spieler direkt den Handlungsverlauf beeinflussen kann? Können das auch spielerische Entscheidungen sein? Muss der Spieler unterschiedliche Enden freischalten können? Ich finde das nur so interessant, weil ja mittlerweile alle auf diesen „Ende A, B, C…“-Zug aufgesprungen sind. Bei vielen hat es aber oft nicht mal was Entscheidungen zu tun. Oder da wo Entscheidungen getroffen werden, haben die nicht mal einen großen Einfluss auf den weiteren Verlauf. („Beyond Two Souls“ war da für mich eine große Enttäuschung.)

    Aber wie gesagt: Ich glaube, ich verkopfe da schon wieder viel zu viel :/ Im Grunde soll der Artikel ja sicherlich als Einstieg dienen – und das ist dir wirklich gut gelungen. Aber vielleicht hast du ja später nochmal Lust, das Thema in einem anderen Artikel zu vertiefen. Viele Möglichkeiten bietet es ja zumindest.
    Liebe Grüße,
    Caecilia

    Antworten
  2. Avatar

    Liebe Caecilia,

    vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar! Deine Gedanken und Anmerkungen sind sehr interessant und ich würde sie nicht als „verkopft“ bezeichnen. Eher als kritisch-interessiert – und das ist super! 🙂

    Der Text soll in der Tat vor allem als Einstieg fungieren. Wir wollen einige Werke, die unter das Label „entscheidungsbasierte Spiele“ fallen, vorstellen. Allerdings wäre eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema sinnvoll und gut.

    Denn ich stimme dir zu: Vieles, was als „interaktiv“ oder „entscheidungsbasiert“ angepriesen wird, ist es nur bedingt. Bei „Beyond Two Souls“ habe ich das auch ganz stark gespürt – das Spiel konnte aus meiner Sicht mit „Heavy Rain“ nicht mithalten. Aber vielleicht liegt es auch nur an der vermeintlich riesigen Entscheidung am Ende – denn je nach dem, wen man vorher so gerettet hat, gibt es ja doch verschiedene Möglichkeiten, wie die Geschichte ausgehen kann.

    Auch bei „Life is strange“ war es mein größter Kritikpunkt, dass die Entscheidungen am Ende nichtig gewesen sind, weil es immer auf die selbe letzte, große Entweder-Oder-Entscheidung hinausläuft.

    Ich denke dennoch, dass die genannten Spiele zurecht als „interaktiv“ bezeichnet werden können. Denn als Spieler trifft man viele Entscheidungen und diese beeinflussen zumindest die weiteren Sequenzen, die man spielt. Inwieweit sie den tatsächlichen Ausgang der Geschichte beeinflussen, ist hingegen sehr unterschiedlich. Zumindest mein Spielspaß wird rückblickend gemindert, wenn ich am Ende denke: „Naja, im Grunde war ja alles umsonst.“ Aber das ist vielleicht auch Geschmackssache und ich da bin ich vielleicht auch zu „verkopft“ 😀

    Auf jeden Fall werde ich über einen detaillierteren Text zum Thema nachdenken, vielen Dank für die Anregung!

    Liebe Grüße,
    Annette

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