Langsam legte sich die Dämmerung über den Wald und die Tiere des Tages suchten den Schutz ihrer Höhlen und Nester auf. Mütter riefen nach ihren abenteuerlustigen Jungen und die Kinder quengelten, noch nicht zu Bett gehen zu wollen. Doch die kleinen Eichhörnchen liefen an diesem Abend gern nach Hause, denn auf sie wartete Opa Tatter mit einer Gutenachtgeschichte. Die beiden fragten sich im Stillen, was er ihnen heute wieder erzählen würde, und während ihre Mutter ihnen das Fell säuberte, dachten sie an holde Prinzessinnen, tapfere Ritter und mutige Hirten, an sprechende Bäume, magische Eicheln und quirlige Quellgeister.
Der alte Eichkater Tatter saß in seinem knarrenden Schaukelstuhl, eine warme Decke über die Beine gelegt, und wartete geduldig, bis seine Zuhörer um ihn saßen. Einst war sein Fell noch seidig braun gewesen und seine Glieder agil und flink, doch mittlerweile hatte sein Fell nur noch die Farbe von sprödem Grau und das Alter hatte sich hartnäckig in seinen Knochen festgesetzt. In seiner Jugend hatte er viele Bäume erklommen, war vielen Tieren begegnete und hatte selbst spannende Abenteuer erlebt. Jetzt räusperte er sich kräftig. „Ah, Kinderchen, sind wir auch … Wo ist denn Zaza?“ Er beugte sich in seinem Stuhl nach vorn, das Holz und vielleicht auch seine Knochen ächzten dabei, und suchte mit seinen schlechten Augen die Gesichter der Kinder ab.
„Hier bin ich doch, Opa Tatter“, hob sie ihr Pfötchen und saß direkt vor ihm.
„Ah, natürlich“, nickte er wissend, „Ist Kulu auch da?“
Der Junge nickte heftig: „Ja, hier. Was gibt’s denn heute, Opa Tatter?“
„Ah, gut gut“, nickte der alte Tatter wieder und zufrieden, „Dann können wir ja anfangen. Heute gibt es nur eine kurze Geschichte, ihr wisst ja, meine Knochen wollen nicht mehr so wie ich.“ Früher hatte er Schlachten entschieden, doch heute konnte er weder liegen noch sitzen noch stehen. „Passt gut auf eure Knochen auf, Kinder.“
Das Mädchen lächelte sanft und rückte dem alten Eichkater die Decke zurecht.
„Erzähl uns endlich die Geschichte“, drängte Kulu ungeduldig. „Erzählst du uns von der Schlacht um Birkenlichte? Als du mit dreihundert der stärksten Eichhörnchen gegen tausendmal so viele Ziesel gezogen bist und gesiegt hast!“ Der Junge war aufgestanden und bewegte ein imaginiertes Schwert wild durch die Luft.
„Nein, nein, mein Junge“, schüttelte der alte Tatter den Kopf, „Die erzähle ich euch ein anderes Mal wieder. Heute wird es eine Geschichte für Zaza.“ Er räusperte sich noch einmal. „Also: Einst, vor langer Zeit – ich erinnere mich noch gut, als wäre es gestern gewesen – da geschah in einem entfernten Königreich ein kleines Wunder. Dem König war endlich ein Kind geboren. Es war eine Tochter um genau zu sein, und er veranlasste ein großes Fest, zu dem er all seine Untertanen; ihr müsst wissen, dass das Königspaar lange Zeit kinderlos geblieben war und nun schon alt und ohne Erben, da gebar ihm seine Frau endlich ein Kind und beide waren bei dem Anblick ihrer Tochter von Freude und Stolz erfüllt.
Jedenfalls lud der König zum Fest, all seine Untertanen waren willkommen und sollten an der reich gedeckten Tafel speisen. Für jeden Gaumen waren die herrlichsten und ausgefallensten Spezialitäten bereitet worden. Mit besonderer Sorgfalt aber ließ er für die zwölf Feen decken. Die zwölf Feen waren weise und gütig und sie hielten schützend ihre Pfoten über das Königreich. Natürlich kamen sie alle zum Fest und jede von ihnen wünschte dem Kind etwas Gutes für die Zukunft. Weil sie Feen waren und sich Zauber in ihren Worten befand, wurde jeder Segen wahr. Die erste Fee wünschte dem Kind gute Gesundheit. Die zweite Fee wünschte ihm Klugheit. Die dritte Fee wünschte ihm Talent in der Kunst. Und so ging es reihum, jede Fee brachte ihren Segen hervor. Doch bevor auch die zwölfte Fee das Wort erheben konnte, unterbrach die schwarze Fee die Festgesellschaft mit ihrem wütenden Schrei. Denn als einzige Fee war sie nicht eingeladen worden und nun war sie so wütend, dass sie das Kind verwünschte. Ihr Fluch sollte durch eine Spindel…“
„Warum war die denn nicht eingeladen worden?“, fragte Zaza den alten Tatter. „Sie war doch auch eine Fee und gute Wünsche von dreizehn Feen sind bestimmt noch besser als von zwölf.“
Kulu seufzte: „Hast du nicht zugehört? Das ist eine schwarze – also eine böse – Fee. Böse Feen lädt niemand ein.“
„Aber Feen sind immer gut“, widersprach Zaza.
Der alte Tatter räusperte sich: „Warum sie nicht eingeladen wurde, liegt doch auf der Hand: Der König hatte nur zwölf goldene Teller. Deswegen war sie nicht eingeladen worden und verwünschte nun das Kind. Die Meerhexe, eine abscheuliche und böse Kreatur – vertraut niemals einer Meerhexe, Kinder – würde den Fischschwanz der Königstochter in richtige Pfoten verwandeln. Sie wollte nämlich, nachdem sie den Prinzen vor dem nassen Tod im Meer bewahrt hatte, an seiner Seite sein. Hach, die Liebe… Ihr müsst wissen, die junge Königstochter war immer schon neugierig auf die Welt außerhalb des Meeres gewesen, doch ihr Vater verbot ihr jeglichen Umgang mit unbeschuppten Wesen und ganz besonders den Umgang mit Eichhörnchen wie euch und mich. Eines Tages jedoch setzte sie sich über das Verbot ihres Vaters hinweg und schwamm an die Wasseroberfläche. Und was sah sie dort? Ein Schiff. Und auf dem Schiff sah sie den Prinzen.
Leider – oder zum Glück – geriet das Schiff in ein Unwetter, kenterte und der Prinz versank bewusstlos im Meer. Natürlich rettete sie ihn und brachte ihn zum Strand. Dort reichte nur ein Augenblick, sich tief in die Augen zu sehen und ineinander zu verlieben. Ist das nicht romantisch? Allerdings, wer halb Fisch und halb Eichhörnchen ist, hat es schwer mit dem Leben an Land. Verzweifelt wandte sich die Prinzessin an die Meerhexe, welche berühmt und berüchtigt für ihre Zaubertränkte und Hexereien war. Ihren Namen trug sie nicht grundlos. Die Meerhexe half natürlich nicht aus Nächstenliebe und verlangte die liebliche Stimme der Prinzessin. Die Prinzessin liebte es, zu singen. Doch jeder Zauber von Meerhexen hat einen Haken, dieser ganz besonders und die Prinzessin…“
„War sie denn eine hübsche Prinzessin?“, unterbrach Zaza erneut, „Bestimmt war sie hübsch. Alle Prinzessinnen sind hübsch.“ Wie die meisten Mädchen spielte auch Zaza gerne Königstochter, um deren Hand heldenhafte Ritter wetteiferten.
„Na, dann bist du bestimmt keine Prinzessin“, lachte Kulu. Manchmal war er ein gemeiner Schlingel.
Sie kniff ihre Augen zusammen und blähte ihre Wangen auf. „Und du bist ein Blödmann.“
„Na na“, hob der alte Tatter seine Hand, „Natürlich war sie eine hübsche Prinzessin. Sie war die schönste Prinzessin im ganzen Königreich. Ihr Winterfell war so weiß wie Schnee und ihre Wangen so rot wie Blut und ihr Pelz so schwarz wie Ebenholz. Freilich war sie nicht nur die schönste Prinzessin im Königreich, sie war überhaupt das wunderschönste Geschöpf und jedermann, ob nah oder fern, wusste von ihrer Grazie und Lieblichkeit. Die Königin und Stiefmutter allerdings war eifersüchtig auf die Prinzessin, denn sie war eitel und selbstverliebt und wollte selbst die Schönste im ganzen Land sein. Jeden Morgen stand sie vor ihrem Spiegel und fragte: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Natürlich war der Spiegel verzaubert und verdammt, die Wahrheit zu sagen. Und jeden Morgen war seine Antwort eine herbe Enttäuschung für die Stiefmutter, denn die Prinzessin war, wie der Spiegel zu sagen pflegte, tausendmal schöner.
Also spann sie einen Plan, um die Prinzessin töten zu lassen. Sie schickte einen Jäger hinaus, um die blutige Tat zu vollbringen. Jedoch konnte er sich nicht überwinden, der Prinzessin ihr Leben zu nehmen. Sie war nicht nur unaussprechlich schön, sie war auch gütig und fröhlich. Es wäre eine Schande gewesen, ihr Leben schon so jung zu beenden. Jeder, der sie sah, wusste sofort, dass noch ein großes Schicksal auf sie wartete. Manchen Eichhörnchen sieht man ihre wichtige Aufgabe einfach an. So schickte der Jäger die Prinzessin fort, auch wenn ihn das selbst in dringendste Gefahr brachte, den Zorn der Stiefmutter auf sich zu ziehen. Und die Prinzessin floh durch sieben Wälder, über sieben Regenbögen und…“
„Dort traf sie auf einen starken Ritter, der sie vor der fiesen Stiefmutter beschützte?“, fiel nun Kulu dem alten Tatter ins Wort. Er glaube, selbst ein tapferes Eichhörnchen zu sein. „Ich würde einer Prinzessin in Not sofort zu Hilfe kommen.“
Zaza lachte auf: „Ja, klar und dabei stolperst du dann über deine eigenen Pfoten. Sehr hilfreich.“
„Ein Ritter beschützt immer die Prinzessin. Selbst ein ungelernter Ritter, jawohl“, verteidigte sich der Junge.
Der alte Tatter jedoch schüttelte den Kopf: „Ritter? Nein, nein, jetzt doch nicht in dieser Geschichte. Wo war ich? Achja, die Prinzessin floh so schnell ihre zierlichen Pfötchen sie trugen durch sieben Wälder und über sieben Regenbögen und durch sieben Täler hindurch bis sie endlich in Sicherheit gelangte. Mitten in diesem Wald stand ein Haus. Selbstverständlich klopfte die Prinzessin an die Tür, doch niemand antwortete ihr. Sie trat ein und fand einen gedeckten Tisch vor, es standen sieben Teller und sieben Becher auf diesem und die Prinzessin aß von dem ersten Teller, doch hier war das Essen zu heiß, und sie aß von dem zweiten, doch hier war das Essen zu kalt, und so kam es, dass sie von jedem Teller ein wenig aß. Natürlich war sie müde von ihrer langen Flucht, das könnt ihr euch vorstellen, und legte sich schließlich in eines der sieben Betten. Ihre Flucht hatte sie hinter die sieben Berge zu den sieben Geißlein geführt.
Am nächsten Tag waren diese sieben jungen Geißlein und die Prinzessin allein zu Haus und der große böse Wolf stand vor ihrer Tür. Die Leibspeise des Wolfes war, wie ihr wisst, junge Geißlein und solange die Geißenmutter außer Haus war, wollte er seine Chance nutzen. So stand der Wolf vor ihrer Tür und bat um Einlass, aber die sieben Geißlein wussten, dass man Fremden nicht die Tür öffnet. Das hatte ihnen die Geißenmutter genauso nachdrücklich beigebracht wie eure Mutter euch. Der Wolf, welcher die Geißlein fressen wollte, war nicht dumm und gab nicht so schnell auf. Bevor er noch einmal bei den Geißlein klopfte, fraß er Kreide, und die sieben Geißlein wären fast auf ihn hereingefallen…“
„Warum frisst er denn Kreide? Das schmeckt doch gar nicht“, beschwerte sich Kulu und verzog das Gesicht.
„Genau“, nickte Zaza, „Und was ist mit der Prinzessin? Will der Wolf sie etwa auch fressen? Dazu ist sie doch viel zu hübsch!“
Der alte Tatter nickte: „In der Tat, Kreide schmeckt nicht gut, aber es macht die Stimme weicher. Leider, liebe Zaza, war auch die Prinzessin erneut in Gefahr. Zwar sollte sie erst nur das Hausmädchen für die Knusperhexe sein, aber sobald die den Prinzen verspeist hätte, würde sie sicherlich auf die Prinzessin zurückkommen. Knusperhexen sind gierige Wesen, Kinder, und fressen kleine Eichkätzchen am liebsten. Doch die Knusperhexe war nicht nur gierig, sondern auch von ungeduldigem Gemüt. Der Prinz schien einfach nicht fett und saftig zu werden, egal wie sehr sie ihn mästete. Dabei sah sie nur einfach nicht, denn ihre Augen waren so schlecht – das Alter ist eine Plage, sag ich euch –, dass der Prinz ihr immer einen abgenagten Knochen hinhielt, wenn sie seinen Arm betastete. So konnte sie den Erfolg ihres Mästens ja nicht bemerken.
Wie gesagt war sie also ungeduldig und wies die Prinzessin an, den Ofen einzuheizen. Die Knusperhexe wollte den Prinzen endlich verspeisen. Zum Glück war die Prinzessin nicht dumm und erklärte, die Hexe müsse schon selbst die Temperatur des Ofens überprüfen. Dabei schob die Prinzessin dann einfach die Knusperhexe selbst in den Ofen und schloss die Klappe hinter ihr. Sie befreite auch noch den Prinzen aus seinem Käfig, in welchem ihn die Knusperhexe zum Mästen gefangen gehalten hatte, und zusammen entkamen sie der Knusperhexe. Die würde wohl niemals mehr wehrlose Eichhörnchen in ihr Lebkuchenhaus locken. Die Prinzessin und der Prinz folgten der Spur aus Kieseln ins Schloss zurück. Die Kiesel waren von solch leuchtendem Weiß, das sie selbst in mondlosen Nächten leicht zu sehen waren, genau deswegen hatte der Prinz sie als Wegmarker genutzt. Damit er immer ins Schloss zurück fand.“
„Und dort lebten sie glücklich und bekamen viele Kinder“, beendete Zaza die Geschichte, wie sie es am liebsten hören wollte.
Der alte Tatter nickte: „Genau. Da fielen drei Äpfel vom Himmel: Einer auf Opa Tatter, einer auf Kulu und Zaza und einer auf die Prinzessin.“
„Wie langweilig“, murrte Kulu, „Der Prinz hat sich immer nur von der Prinzessin retten lassen. So geht das doch nicht.“
„Morgen wieder“, versicherte der alte Tatter, „Morgen wird der Prinz ein echter Held sein, versprochen. Jetzt ist es Zeit für euch beide ins Bett zu gehen.“
Widerwillig standen die beiden kleinen Eichhörnchen auf, drückten ihren Opa Tatter herzlich und wünschten ihm eine angenehme Nachtruhe. Wie jedes Kind wollten auch sie noch nicht ins Bett gehen, aber die Aussicht, dass sie morgen Abend wieder eine Geschichte von ihrem Opa Tatter hören würden, stimmte sie brav genug. Sie liebten seine wirren Geschichten.
Jan Laumeier
Illustrationen: Jeremiah Morelli, www.morjers-art.de; Baum: Buchstaplerin Maike
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