Familie in Bruchstücken

von | 31.01.2018 | Belletristik, Buchpranger

Was ist eigentlich Familie? Sind es nur die leiblichen Eltern und Geschwister? Sind es die Menschen, mit denen man aufwächst? Die, die man sich als Erwachsener aussucht? Um diese Fragen geht es in „Was alles war“, dem neuen Roman von Annette Mingels. Worteweberin Annika hat ihn gelesen.

Susa ist Ende 30 und wurde als Kind adoptiert. Sie fühlte sich damit immer glücklich und liebt ihre Adoptivfamilie. Jetzt aber gerät alles durcheinander und Susa wird plötzlich bewusst, dass „Familie“ vor allem eins ist: ein Konstrukt. Das erkennt sie, als ihre leibliche Mutter auftaucht und von drei weiteren Kindern erzählt, Susas Halbgeschwistern.
Auch das sichere Gerüst der Adoptivfamilie wankt, als der Adoptivvater erkrankt und stirbt. Und dann tritt auch noch Henryk in Susas Leben. Er heiratet sie und bringt zwei Töchter mit in die Ehe. Leve wird geboren, Susas heiß geliebter „eigener“ Sohn. Das Gefühl, zu zerbrechen, die Richtung im Leben verloren zu haben, nimmt dennoch zu: Susa muss sich fragen, wie all die Bruchstücke ihrer Familie ihr Sicherheit geben können und wen sie in ihrem Leben eigentlich wirklich braucht:

„Sie ist zersplittert, wie kann sie all diese Stücke je wieder zusammensetzen? Und fehlt da nicht eines? Ist da nicht eine Leerstelle, die, wenn sie nur erst gefüllt wäre, das Bild vervollständigen würde – siehe da: Das war es also, was fehlte, und jetzt, wunderbar geordnet, liegt es vor ihr: Das bin ich.“

Wir haben es hier nicht mit einer gänzlich frei erfundenen Geschichte zu tun: Tatsächlich ist auch die Autorin bei Adoptiveltern aufgewachsen, auch sie lernte erst spät die leibliche Mutter und die Halbgeschwister kennen. Gut möglich, dass Mingels die Dramen des Alltags auch deshalb so ungeschönt und emotional schildern kann, weil sie weiß, wovon sie spricht.

Der Roman lässt viel Raum für Interpretationen und mahnt eine eigene Haltung des Lesers geradezu an. Aus wechselnden Erzählperspektiven wirft Mingels einen Blick auf Susas Inneres. In einer Situation, in der die Protagonistin für niemanden mehr erreichbar scheint, geht auch die Erzählstimme auf Distanz. Die Sprache des Romans ist klar und sehr berührend:

„Er nimmt seine Hand von meiner, und wir treiben auseinander wie Wellen, die kurz aufeinandertrafen, ihre Fluten miteinander mischten. Gut möglich, dass das noch einmal passiert und immer wieder: dass wir zueinanderfinden. Das ist nicht viel, denke ich, aber das ist doch etwas.“

Annette Mingels lotet in „Was alles war“ die Spielarten von „Familie“ aus. Die Autorin nimmt uns mit auf eine Reise: in Susas Inneres, aber auch ganz real nach Amerika, wo Susa auf die Suche nach ihrem leiblichen Vater geht. Denn zumindest diese Hoffnung besteht für Susa: dass es hilft, die eigenen Wurzeln zu entdecken, wenn man im Leben gerade den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht.

Was alles war. Annette Mingels. Knaus. 2017.

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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