„Woher kommst du?“, ist eine Frage, die wir oft unüberlegt stellen. Herkunft und Heimat sind nicht immer leicht zu definieren, das beweist Saša Stanišić in seinem Roman „Herkunft“ meisterlich, findet Worteweberin Annika.
Saša Stanišić wurde in Višegrad an der Drina geboren, in einem Staat, den es heute nicht mehr gibt: Jugoslawien. Während des Bosnienkrieges flohen seine Mutter und er nach Heidelberg, der Vater folgte nach. Zuerst für das Studium durfte Stanišić in Deutschland bleiben und lebt heute als Schriftsteller mit seiner Familie in Hamburg. Das sind die Fakten, die man so auch bei Wikipedia nachlesen kann und um die es in „Herkunft“ natürlich auch geht. Davon ausgehend entspinnt sich ein Roman, der mit Drachen und Schlangen bevölkert ist, mit Großmüttern und den Toten.
„Der Geografielehrer fragte mich, was die Hauptstadt meines Heimatlandes sei und ich sagte ‚Belgrad und Sarajevo und Berlin.‘“
Im Roman erzählt der Autor ausführlich über seine Vergangenheit, die Araltankstelle im Heidelberger Emmertsgrund, einen Ausflug in das Dorf Oskoruša, die an Demenz leidende Großmutter. Und auch das Schreiben selbst nimmt er sich zum Thema, das Erzählen in diesem Roman, genauso wie den Weg, der ihn dazu gebracht hat. Dabei geht er nicht chronologisch vor, sondern springt durch die Zeiten und schweift ab. Immer wieder wirft er einen Blick in die Gegenwart, auf den Tag des jeweils tatsächlichen Schreibens im Jahr 2018 und die politische Situation in Deutschland, in der die Herkunft der Menschen eine wichtige Rolle zu spielen scheint.
„Identitätsstress schert sich nicht um Breitengrade.“
Saša Stanišićs „Herkunft“ ist eine Wucht, geschrieben in einer Sprache, in die man sich hineinlegen möchte. Oft musste ich beim Hören schmunzeln oder laut loslachen über die Bilder, die der Autor findet, und die Anekdoten, die er erzählt. Dabei ist das eigentliche Thema natürlich nicht immer lustig. Herkunft, sagt Stanišić, sei ein „Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestreift worden war.“ Und das kann zu Problemen führen, bei der Ausreise, beim Ankommen, beim Umgang mit der Familie. Doch „Herkunft“ ist mehr als nur ein politischer Roman, denn der Text strotzt vor Fabulier- und Erzähllust, vor der Freude an Sprache. Auch deswegen werde ich diesen Roman sicherlich noch einmal lesen, nachdem ich ihn gehört habe, denn es gibt so viele Sätze darin, die ich mir markieren möchte.
Das Hörbuch sei trotzdem jeder und jedem ans Herz gelegt. Der Autor liest selbst, mit seiner Stimme, der man seine Biografie noch anhören kann, denn ein leichter Akzent ist ihr geblieben. Unnachahmlich betont er und steigert sich in einige Situationen hörbar hinein, wird laut oder zärtlich. Besonders schön dabei sind die Lieder, die Stanišić im Hörbuch singt, und die so viel mehr von ihrer Kraft entfalten können.
Deutscher Buchpreis 2019
Mit „Herkunft“ stand Saša Stanišić neben Raphaela Edelbauer, Kiku Sophie Kühmel, Tonio Schachinger, Norbert Scheuer und Jackie Thomae auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019 und wurde am 14. Oktober 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. „Herkunft zeichnet das Bild einer Gegenwart, die sich immer wieder neu erzählt“, hieß es in der Jurybegründung. Bei seiner Rede bei der Preisverleihung äußerte sich ein angeschlagener Saša Stanišić kritisch zum Nobelpreis 2019 für Peter Handke, der mit seinen Aussagen und Texte zum Bosnien-Krieg nicht nur bei Stanišić für Unverständnis sorgt. Stanišić hingegen feiere eine Literatur, die die Leserinnen und Leser nicht für dumm verkaufen wolle, die die Zeit beschreibe. Er schloss mit den Worten: „Lassen Sie sich nicht anstecken, außer mit guter Literatur.“ Damit lassen wir uns gerne anstecken und gratulieren herzlich!
Herkunft. Saša Stanišić. Gelesen vom Autor. Gekürzte Lesung. 339 Minuten. Der Hörverlag. 2019.
Mehr von Saša Stanišić:
- Rezension zum Hörbuch von „Vor dem Fest“
- Rezension zu „Vor dem Fest“
Wir danken allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für die schönen Gedanken zu ihrer Heimat! Gewonnen hat Simone S. – herzlichen Glückwunsch!