Eines Abends haben sich Zeilenschwimmerin Ronja, Geschichtenerzähler Adrian, Bücherstädterin Mareike, Satzhüterin Pia und Wortklauberin Erika im Kreativlabor versammelt, alle Lichter ausgemacht und eine Kerze angezündet. Reihum haben sie gemeinsam eine (Weiterschreib-)Geschichte erzählt, die sie alle das Gruhuhuhuhuuuseln gelehrt hat.
Der Wind peitschte den Regen gegen den hohen Turm des Kreativlabors. Die Blätter des wilden Weins raschelten und klatschten zusammen mit dem Regen gegen die schwach erleuchteten Fenster. Ein dumpfes Knarzen ertönte tief unten im Turm. Kalte Zugluft durchfuhr die klamme Kleidung der jungen Frau, während sie die morschen und abgetretenen Stufen des alten Gemäuers emporstieg. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, gleich einem armdicken Tausendfüßler, der mit seinen unzähligen Beinen über ihre Haut kroch. Hätte der Sturm doch nur nicht das Zelt zerrissen, dachte sie, während das flaue Gefühl in ihrem Magen mit jeder Stufe stärker wurde.
Die Stufen schienen kein Ende nehmen zu wollen und die Wände immer näher zu kommen. Im Zwielicht des Turms, das nur vereinzelt vom Licht eines Blitzes durchbrochen wurde, stolperte sie oft über Unebenheiten und … Dinge, die auf den Stufen herumlagen. So wie es unter ihren Füßen knirschte, wollte sie gar nicht wissen, worauf genau sie da trat.
Der Weg war schier endlos, doch schließlich erreichte sie eine knorrige, schwere Tür. Als sie den Knauf berührte, um ihn zu drehen, ließ ein elektrischer Schlag sie zurückschrecken. Unter ihrem Schuh knirschte es, worüber sie nicht zu genau nachdenken wollte. Sie fasste sich ein Herz und klopfte gegen die schwere Tür. Es erklang unnatürlich laut. Plötzlich erstarb der Sturm, der sich eben noch gegen die uralten Mauern des Turms geworfen hatte. Stille. Eine so vollkommene, unheimliche Stille hatte sie noch nie erlebt. Ein kalter Schauer überlief sie. Und dann hörte sie es. Langsame, schwere Schritte auf der anderen Seite der Tür.
Als die Schritte verklungen waren, herrschte erneut jene unangenehme Stille, die sich gleich einem nebligen Dunst über die Stufen und Steine des alten Turms legte. Sie wurde von einem rostigen Quietschen sowie dem Geräusch von Holz durchbrochen, das über Stein schleifte, während sich die Tür langsam vor der jungen Frau auftat. Sie öffnete sich nur einen Spaltbreit. Durch den Spalt drang eine Stimme, so kalt und rau wie brechendes Eis: „Du armes, verlorenes Ding.“
Sie ahnte, dass sie umkehren sollte, solange sie es noch konnte. Doch ihre Füße gehorchten ihr nicht mehr. Sie öffnete den Mund. Versuchte, etwas zu sagen. Aber auch ihre Stimme widersetzte sich ihrem Willen. Dann schwang die Tür ganz auf: Das alte, verwitterte Holz knarzte. Die Türangeln quietschten so erbärmlich, dass die junge Frau meinte, darin die Schreie verlorener Seelen zu hören. Hinter der Türschwelle lag neblige Dunkelheit, in der sie kaum etwas erkennen konnte. Doch dann schälte sich ein Schemen aus den Schatten. Langsam und schwer atmend schlurfte das Wesen ins Licht.
Der jungen Frau stockte der Atem als die Gestalt vollkommen ins schummrige Licht trat, das der Mond durch die Scharten und das löchrige Dach warf. Mit wummerndem Herzen starrte sie in das vernarbte und zerfurchte Gesicht einer Frau, die sie mit einem gelbzahnigen Lächeln hämisch angrinste, bei dem unklar war, ob es einladend oder abschreckend wirken sollte. Ein zerrissenes, braunes Leinenkleid bedeckte ihren dürren Körper und unter einem fleckigen Tuch, das sie behelfsmäßig über sich geworfen hatte, lugten dünne, spinnenartige Glieder hervor.
„Ich habe schon gewartet“, sagte die Frau und machte eine einladende Geste in den Raum hinein.
Ein Blitz zuckte über den Himmel und tauchte mit einem Mal den gesamten Raum in gleißendes Licht. Für einen kurzen Moment war alles klar und deutlich zu erkennen, ehe es wieder in der Dunkelheit verschwand. Die junge Frau starrte an dem ausgestreckten Arm der Frau vorbei in den Raum. Hatte sie da eben Blut an der Wand gesehen?
„Schon möglich“, sagte die knorrige, alte Frau.
„Äh … ww … äh … Was?“
„Das Zeug an der Wand. Schon möglich, dass das Blut ist.“
Die junge Frau blinzelte mehrfach.
„Ja, ich kann Gedanken lesen“, fuhr die Alte fort, als hätte sie diese Unterhaltung schon tausend Mal geführt. „Nein, mir macht das keinen Spaß. Ja, es ist manchmal ganz nützlich. Aber meistens vor allem nervig. Wie? Nein. Nein, absolut nicht. Ach das. Nein, keine Ahnung. Ich bin hier erst vor einem Monat eingezogen und noch nicht so richtig zum Aufräumen gekommen.“
Wieder wies die Alte ihrem jungen Gast den Weg. Stumm blickte dieser dem Fingerzeig folgend in den Raum und zögerte. Ungeduldig hob die dürre Gestalt im Leinenkleid eine Augenbraue – oder das, was davon übrig war und keinem Narbengewebe hatte weichen müssen. „Wenn ich bitten darf?“
Zögerlich trat die junge Frau in den düsteren Raum, fragte sich, warum sie der Einladung der Alten folgte – schließlich wirkte dieses Turmzimmer alles andere als gastfreundlich. Überall hingen Spinnenweben und das rottende Holz der spärlichen Möblierung verbreitete einen modrigen Geruch.
Plötzlich hörte die junge Frau ein beinah schadenfrohes Kichern von der Alten neben sich.
„Nein, nein. Doch. Es ist nicht nötig. Hab keine Angst. Sie sollte. Bitte nicht.“
Die Stimme der Alten schwang zwischen unheimlichem Murmeln und bösartigem Verlangen hin und her, als würde sie mit sich selbst diskutieren. Nein, eher kämpfen. Nur ein gelegentliches Kichern unterbrach ihren Monolog. Konnte es sein, dass die Flut an Gedanken, die ihr durch den Kopf rasten, ihren Verstand durcheinanderbrachte? Es musste einem Dialog gleichen, in dem eine dritte Person ständig Wortfetzen hineinwarf.
Der jungen Frau wurde unheimlich zumute und sie trat, ihre Augen auf die Alte fixiert, einige Schritte zurück Richtung Tür.
„Du willst gehen?“, fragte die Alte verwundert. „Warum? Bleib noch ein wenig. Iss mit uns.“
Die junge Frau hielt inne. „Uns?“
Die alte Frau nickte. „Wir würden uns sehr freuen. Nur selten bekommen wir Besuch. Zelte sind leider das Einzige, was-“, sie schreckte hoch und unterbrach sich. „Natürlich wollte ich das nicht sagen. Du hast doch keine Ahnung. Man wird sich doch noch unterhalten dürfen.“ Dann blickte sie wieder die junge Frau an. „Ich bin übrigens Elenor. Und wie ist dein Name?“
„Eveline Mathilde Garnisona Jemima Bernadette Baronin von und zu Staubesberg und Buchfinkenwalde.“
Elenor blinzelte mehrfach. „Eveline Martha Gar … Gar … Was?“
„Eveline Mathilde Garnisona Jemima Bernadette Baronin von und zu Staubesberg und Buchfinkenwalde“, wiederholte Eveline Mathilde Garnisona Jemima Bernadette Baronin von und zu Staubesberg und Buchfinkenwalde. Dabei verschwieg sie, dass sie von allen stets nur Evi genannt wurde. Elenor kratzte sich am Kopf. „Nun … ähm …“ Sie räusperte sich. „Isst du noch mit uns?“
Evi wollte verneinen, doch ihr Kopf verselbstständigte sich und nickte.
„Wunderbar.“ Erfreut rieb Elenor sich die Hände und machte eine einladende Geste. Evi trat über die Schwelle. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss und der Raum versank in Dunkelheit.
Illustration: Geschichtenerzähler Adrian
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