Krankenschwester Asta Arnold hat ihr Leben lang Menschen in den ärmsten Gegenden der Welt geholfen. Kurz nach ihrem 65. Geburtstag findet sie sich vor der Drehtür des Münchner Flughafens wieder, ziellos und ohne Plan für die Zukunft. Etwas hält sie hier und in ihren Erinnerungen – an Ereignisse, die sie erlebt und Personen die sie gekannt hat – oder etwa doch nicht? So ganz sicher ist sich Asta nicht mehr. Ihre Erinnerungen gleichen kurzen Episoden, die beinahe Kurzgeschichtencharakter haben. Die Erzählungen in Katja Lange-Müllers Roman „Drehtür“ werfen viele Fragen auf – denen sich Buchschatzmeisterin Rosi und Erzähldetektivin Annette in einem Zwiegespräch stellen.
Erzähldetektivin Annette (EA): Beim Lesen habe ich mich gefragt, ob Astas Erinnerungen chronologisch sind oder ob sie lediglich an verschiedene Episoden aus ihrem Leben zurückdenkt.
Buchschatzhüterin Rosi (BR): Das ist eine gute Frage. Ich hatte den Eindruck, dass die Erinnerungen dem Verlauf der Jahre entsprechen und zeitlich aufeinander folgen. Ein bisschen so, als würde Astas Leben vor ihrem inneren Auge ablaufen. Obwohl: So ganz chronologisch verläuft der Roman auch nicht. Vielmehr lassen sich verschiedene Erzählebenen unterscheiden, die zu unterschiedlichen Zeiten stattfinden. Einmal haben wir die Ebene am Flughafen, die Asta in der Gegenwart darstellt. Dann die Autorin selber, als Katja Lange-Müller, die über Asta berichtet.
EA: Wobei ich finde, dass sich diese beiden Ebenen nur schwer voneinander unterscheiden lassen. Denn Lange-Müller ist keine auktoriale Erzählerin, die mehr über Asta wüsste, als diese selbst. Stattdessen werden Astas Gedanken und Erinnerungen nur manchmal in Ich-Form und manchmal in der dritten Person wiedergegeben.
BR: Dann sollten wir besser von verschiedenen Erzählpersonen sprechen, denn davon gibt es einige. Neben Asta selbst und der Erzählerin gibt es – wenn man so will – eine dritte Ebene, nämlich die der Erinnerungen. Und innerhalb dieser erzählen Personen in wörtlicher Rede.
EA: Im Grunde sind ja bereits die Asta heute und ihre Erinnerungs-Ichs jeweils unterschiedliche Personen. Wenn innerhalb der Erinnerungen dann noch weitere Personen zu Wort kommen, wird es teilweise doch etwas unübersichtlich. Beispielsweise bin ich mit den beiden Tamaras durcheinander gekommen.
BR: In der Tat muss man beim Lesen konzentriert bleiben, um die verschiedenen Erzählebenen oder -personen auseinander zu halten. Gleichzeitig macht diese Abwechslung aber auch den Reiz des Buches aus, es wird spannender.
EA: Da gebe ich dir absolut Recht. Aber bei den beiden Tamaras – der Krankenschwester Tamara Schröder und Tamara Buske, einer Anhängerin Che Guevaras – bin ich wirklich durcheinander geraten. Da habe ich erst nach einigen Seiten gemerkt, dass gerade von einer anderen Person die Rede ist.
BR: An dieser Stelle hat mir mein Hintergrundwissen sehr geholfen. In einem ZDF-History habe ich von einer Deutschen gehört, die eine Freundin oder sogar die Geliebte von Che Guevara gewesen sein soll. Darum war mir klar, dass es sich bei der Tamara, die durch den kubanischen Dschungel reist, nur um eben diese Deutsche handeln kann.
EA: Ich war mir zwischenzeitlich nicht mal mehr sicher, ob diese beiden Tamaras nicht eigentlich ein und dieselbe Person sind. Fragt Asta sich das nicht sogar selbst?
BR: Ich glaube, was du meinst ist Astas Überlegung, ob die Gegebenheiten, an die sie sich zu erinnern glaubt, wirklich stattgefunden haben. Inwieweit kann sie ihren eigenen Erinnerungen trauen? Haben die Dinge sich tatsächlich so zugetragen? Oder haben sie anders stattgefunden und Asta erzählt sich die Dinge in ihrem Kopf, wie sie diese gerne gehabt hätte? Diese Überlegung hatte ich nicht nur mit Bezug auf die beiden Tamaras, sondern bei sämtlichen Personen in Astas Episoden.
EA: In dem Zusammenhang ist mir eine Stelle besonders aufgefallen. Schon ganz zu Anfang, als sich Asta zum ersten Mal an eine Begegnung zurückerinnert, in diesem Fall mit einem koreanischen Koch mit Zahnschmerzen, sagt sie: „Nun war unsere Begegnung ja auch eine, die manch anderer vielleicht flüchtig nennen würde; sie kommt mir nur gerade jetzt so lang und intensiv vor, weil ich eine Art Déjà-vu erlebe, in dem sich jedes einzelne Detail ganz unwirklich dehnt.“ (S. 22).
Das ist auch aus Sicht der Autorin interessant, denn als Leser könnte man durchaus anzweifeln, dass eine Person sich fünfzig Jahre später noch derart detailliert an ganze Gespräche erinnern kann. Stattdessen lässt Katja Lange-Müller ihre Protagonistin eingestehen, dass es wohl eher ein Trick des Gehirns ist: In Wahrheit sind nicht so viele Details vorhanden, doch die Erinnerung dehnt sich aus und vervollständigt sich selbst zu einer plausiblen Geschichte. Teilweise war es wirklich so, teilweise wünscht man sich, es wäre so gewesen.
BR: Dabei handelt es sich um einen psychologischen Fakt. Während meiner Ausbildung zur Gedächtnistrainerin habe ich gelernt: Unser Gehirn spielt uns solche Erinnerungen vor. Wir glauben, dass alles genauso passiert ist, wie wir uns daran erinnern, aber es spielen derart viele Faktoren hinein, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas anders war. Vielleicht wurde die Episode im Familienkreis immer wieder erzählt und jeder sagt ein bisschen was anderes. All diese Informationen, die wir auch danach und im Drumherum bekommen haben, speichert unser Gehirn und bildet daraus seine eigene Geschichte. Im Großen und Ganzen stimmen die Erinnerungen, aber hundertprozentig sind die Dinge nicht so passiert, wie wir meinen. Dieses Phänomen ist in der Tat bekannt und ganz natürlich und insofern hat Asta guten Grund, sich die Fragen nach der Richtigkeit ihrer Erinnerungen zu stellen.
EA: Und diese Frage danach, wie verlässlich Erinnerungen sind, stellt sie sich ja bis zum Schluss immer wieder, das lässt sie nicht los. Sie gelangt zu der Einsicht, dass ihr bestimmte Geräusche, Gerüche, Farben, Gesichter oder Situationen am Flughafen „als Stichwortgeber und Inspirationsquelle“ (S. 94) dienen, die Erinnerungen triggern. Und diese setzt ihr Gehirn ganz ungefragt zu plausiblen Geschichten zusammen.
BR: Um noch einmal auf deine Schwierigkeit zurückzukommen, die beiden Tamaras in ihren plastischen Lebensbeschreibungen auseinander zu halten: Ich glaube, dass Hintergrundwissen ausgesprochen wichtig und hilfreich für das Verständnis des Buches ist. Das gilt beispielsweise auch für die Episode mit den indischen Frauen, wie sie die Krankenschwester und Autorin Tamara Schröder erlebt haben soll. Tamara erzählt von einer indischen Schriftstellerin namens Shamim, die sie auf der Frankfurter Buchmesse kennenlernt. Shamim lädt sie zu sich nach Hause ein und zeigt Tamara furchtbar entstellte Frauen, die bei Säure- und Feuerattentaten nur knapp mit dem Leben davongekommen sind.
Von ihren Familien und der Gesellschaft verstoßen, besteht ihre einzige Überlebenschance darin, durch Näharbeiten Geld zu verdienen. Doch dazu benötigen sie Nähmaschinen, die Tamara ihnen in Deutschland besorgt. Für indische Frauen stellen Nähmaschinen den wichtigsten Besitz dar. In einem meiner Deutschkurse sitzt eine indischstämmige Teilnehmerin, die mir beides voll und ganz bestätigt hat. Zum einen die Wichtigkeit des Besitzes einer Nähmaschine, mit deren Hilfe die Frauen sich und ihre Kinder ernähren können. Zum anderen auch die grausamen Attentate mit kochendem Wasser oder Öl, im Extremfall sogar mit Benzin und dem Anzünden bei lebendigem Leibe. Das ist Gang und Gäbe.
EA: Hintergrundwissen hätte ich mir besonders mit Bezug auf den Film gewünscht, den Asta in New York gesehen hat. Die Art und Weise wie von dem Film gesprochen wurde, lässt mich glauben, dass es ihn tatsächlich gibt. Asta erinnert sich an diese Episode, nachdem sie am Flughafen einen Mann sieht, der dem Hauptdarsteller ähnelt, der vielleicht sogar der Nazi-Arzt ist, von dem der Film handelt. Gerade da es scheinbar um historische Figuren geht, wäre Hintergrundwissen schön und hilfreich. Leider habe ich auch nach längerer Recherche weder den Titel des Werkes, noch den Namens des NS-Arztes herausfinden können.
BR: Auch ich habe den Eindruck erhalten, dass es Film und Personen tatsächlich gibt beziehungsweise gegeben hat. Ich glaube, man muss Hintergrundwissen in verschiedenen Bereichen der Historie, des Weltgeschehens haben, um die einzelnen Episoden des Buches deuten zu können.
EA: Das auf jeden Fall. Und sicherlich sind weiterführende Gedanken zu den angesprochenen Themen auch gewünscht. Ich glaube, „Drehtür“ möchte weniger Antworten liefern, als Fragen stellen.
BR: Als Leser ist man gezwungen, über bestimmte Themen nachzudenken. Das ist von der Autorin intendiert. Es stellt sich ohnehin die Frage, wie viel von Katja Lange-Müller in Asta steckt. Beide Frauen sind etwa gleich alt, beide Frauen sind in Ost-Berlin geboren. Auch Lange-Müller hat einige Jahre als Krankenschwester gearbeitet, interessanterweise in der Psychiatrie, von der Asta sagt, dort habe es ihr am besten gefallen. Mindestens scheint „Drehtür“ also halb-autobiographisch zu sein. Ob Katja Lange-Müller ähnliche Gründe hatte, Krankenschwester zu werden wie ihre Protagonistin Asta Arnold?
EA: Die da wären?
BR: Ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen, würde ich sagen, Asta hat sich ins Helfen geflüchtet. In den letzten Jahrzehnten hat sich ihr gesamtes Leben darum gedreht, anderen Menschen in den Krisengebieten dieser Welt zu helfen. Mit 65 wird sie von ihren Kollegen in Zwangsrente geschickt – und sieht sich mit der Frage konfrontiert, was in ihrem Leben noch bleibt, ohne die Aufgabe des Helfens. Fast fragt sie: Steht am Ende meiner Arbeit auch das Ende meiner selbst?
EA: Interessant! Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die Erinnerungs-Episoden ganz anders interpretieren: Asta lässt ihr Leben Revue passieren und ruft sich noch einmal ins Gedächtnis, was ihr in den letzten 65 Jahren wichtig gewesen ist.
BR: Das Thema der eigenen Sterblichkeit zieht sich durch das gesamte Buch. Immer wieder blitzt die Frage auf, wieviel Zeit noch bleibt, wieviel Verlass noch auf den eigenen Körper, den eigenen Verstand ist. Das sind wichtige Fragen, die sich jeder von uns einmal stellen muss. Sicherlich bin ich für dieses Thema besonders sensibilisiert. Unmittelbar vor der Lektüre der „Drehtür“ habe ich „Das letzte Tabu“ von Henning Scherf und Annelie Keil gelesen, das sich mit den Themen Sterben, Sterbebegleitung und Tod auseinandersetzt. [Anmerkung der Redaktion: Ein Interview mit den Autoren findet ihr demnächst auf unserer Website.]
EA: Dein Blick ist da mit Sicherheit geschärfter. Mir sind diese Andeutungen erst gegen Ende klar geworden.
BR: Besonders versteckt ist der Verweis auf die Tür bereits zu Anfang des Buches: „Was ist richtiger? Ich stehe vor der Tür oder ich stehe hinter der Tür? Vor, hinter, richtiger…“ (S. 14). Wenn man stirbt, steht man auch vor einer Tür, vor der Schwelle zwischen Leben und Tod. Die Drehtür versinnbildlicht das sehr schön. Oder wenn sich Asta an die Todesanzeige der ehemaligen Schwesternschülerin Carmen erinnert und sich fragt, woran sie wohl gestorben sei – „Krebs? Schlaganfall? Herzinfarkt? Sie wäre jetzt in meinem Alter …“ (S. 17).
EA: Mir kam der Gedanke, dass Astas Beschäftigung mit diesen Themen daher rührt, dass sie nicht weiß, womit sie den Rest ihres Lebens füllen soll, wenn nicht mit Arbeit. Ab jetzt ist alles nur noch Warten auf den Tod.
BR: In dem Zusammenhang sind ihre Überlegungen mit Bezug auf das Helfen interessant. Einmal unterscheidet sie zwischen professionellem und laienhaftem Helfen. Dann aber auch in der Begründung, warum diese Leute helfen. Die professionellen Helfer bleiben in der Regel länger dabei, aber sie haben nicht selten egozentrische Gründe für ihren Helferinstinkt. „Helfen, helfen, helfen, und warum? Ist es uns, war es mir wirklich immer nur ein Bedürfnis? Oder wollte ich, ohne dass es mir klar gewesen wäre, noch etwas anderes beweisen? Und wem wollte ich dieses etwas anderes beweisen?“ (S. 32 f.)
EA: Mein Eindruck ist: Das Helfen war für Asta eine Fluchtmöglichkeit. Oder war es eine Sühne für etwas? Der Tod wäre nur eine weitere Möglichkeit zu flüchten. Und im Angesicht des Todes gelangt man zu den größten Erkenntnissen über das eigene Leben.
BR: In jedem Fall scheint sie eine Rückschau ihres Lebens durchzuführen. Und diese muss, das habe ich auch im Gerontologie-Studium gelernt, positiv ausfallen, sonst fällt es schwer, zu gehen. Was ist in Astas Leben noch ungelöst? Möchte sie vor ihrem Ableben noch etwas Bestimmtes tun?
EA: Ich denke, dass sich sowohl für Asta als auch für die Leser erst ganz am Ende alles aufklärt. Gleichzeitig wirkt das Ende sehr abrupt, ich habe damit nicht gerechnet.
BR: Obwohl sich rückblickend einige Hinweise auf das Ende finden lassen, kam es auch für mich sehr plötzlich und unerwartet. Und scheinbar auch für Asta selbst: „Es ist so weit, Asta kann keine Minute länger warten; sie muss, ob sie will oder nicht.“ (S. 214).
EA: Trotz des unerwarteten Endes hat mir das Buch sehr gut gefallen. Was meinst du?
BR: Ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen und es war mit keiner Zeile langweilig. Trotz seiner Kürze erklärt auch das Ende vieles, was bis dahin unklar war. Alles in allem ist die „Drehtür“ sicherlich kein einfaches Buch und als Leser muss man sich darauf einlassen können. Dass der Roman es auf die Longlist geschafft hat, ist ebenso nachvollziehbar wie sein Fehlen auf der Shortlist. Lesenswert ist „Drehtür“ jedoch allemal.
Drehtür. Katja Lange-Müller. Kiepenheuer & Witsch. 2016.
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