Kleines Wesen besonders schlau

von | 24.06.2017 | #litkinder, Kreativlabor, Specials

Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Chantal und wurde als goldiger Aprilscherz in einer Pferdebox im Hunsrück geboren. Dummerweise kündigte mir meine Mama ihre warme Bauchwohnung an einem äußerst ungemütlichen Aprilmorgen. Ich vermute, dass es mit meinen Turnübungen in ihrem Bauch zusammenhängt. Ich habe vermutlich ein wenig übertrieben. Auf jeden Fall wurde ich von ihr einfach vor die Tür gesetzt. Ich hatte keinerlei Chancen. Meine Mutter presste und drückte mich aus meinem wohligen Zuhause … und auf einmal lag ich in einem Berg aus Stroh.
Da liege ich nun völlig hilflos mit nassem, verklebtem Fell. Ich versuche, mühevoll die Augen zu öffnen. Oh, es klappt. Aber, oh Schreck, was ist das denn für ein unheimlicher Kopf?
„Keine Angst, kleine Prinzessin! Ich bin es, deine Mutter“, flüstert mir eine sanfte Stimme ins Ohr.
Aha, also kein gefährliches Ungetüm, sondern meine Mama! Stimmt, ein Monster könnte mich unmöglich so wundervoll mit seiner rauen Zunge trocken lecken. Es scheint, als habe Frau Mama ein schlechtes Gewissen, wegen des Wohnungsrauswurfs.
Da will ich mal nicht nachtragend sein. Oh, wie angenehm, ich könnte ewig so liegen. Während des liebevollen Kraulens schaue ich mich neugierig um. Es gibt wahnsinnig viel zu entdecken. Als erstes beobachte ich meine Mama genau. Wow, ist sie wunderschön. Ihr Fell ist dunkelbraun und ihre Mähne lang und dick, ihre zarte Stimmlage hört sich an wie Musik.
Kaum ist mein Teddyfell trocken, dringen aus meinem Bauch komische Geräusche. Was ist los mit mir?
Erneut höre ich die samtweiche Stimme meiner Mama: „Chantal, es wird Zeit, dass du aufstehst. Du hast Hunger und musst unbedingt etwas Milch trinken. Versuche es mal!“
Sanft stupst sie mich mit ihren weichen Nüstern an. Kann mir einer verraten, wie ich mich mit so langen Beinen zum Stehen kommen kann? Mühsam und tollpatschig versuche ich zum Stehen zu kommen. Es ist gar nicht so einfach. Immer wieder rutschen meine Hufen auseinder und ich liege wieder im Stroh.
Und dann stehe ich auf meinen wackligen und zittrigen Gliedern. Aber wo gibt es hier etwas zu trinken? Langsam begebe ich mich auf die Suche nach der Milchbar. Man, ist mein Fohlenleben anstrengend. Ich will wieder zurück in Mamas Bauch, dort ist es kuschelig, angenehm bequem und das Essen wird auch geliefert!
Oh, da ist ja die Milchquelle. Mhm, schmeckt das lecker. Oh man, das Trinken macht wirklich müde! Glaube, ich lege mich für einen Moment hin. Kaum liege ich im Stroh, bin ich auch schon eingeschlafen.
Nach meinem Schläfchen räkle ich mich genüsslich im Stroh und wache langsam auf. Mein Blick fällt auf komisch aussehende Wesen.
„Mama, was steht da vorn und starrt uns so an?“, erkundige ich mich bei meiner Beschützerin.
„Chantal, das sind Menschen. Sie freuen sich, dass du gesund und putzmunter auf die Welt gekommen bist.“
„Woher wissen die von meinem Bauchwohnungsrauswurf?“, frage ich irritiert.
„Ach, Kleines,ich habe dich doch nicht rausgeworfen, die Natur gibt das so vor. Für dich beginnt nun ein schönes Pferdeleben außerhalb meines Körpers. Du wirst täglich ein wenig wachsen und eine Unmenge interessanter Dinge lernen und erleben“, klärt mich Mama auf.
Vom vielen Zuhören bin ich schon wieder hungrig. Diesmal klappt das Aufstehen und das Trinken bereits besser. Die Milch ist lauwarm und schmeckt köstlich.
Bevor ich mein Leben weiter genieße, werde ich erst einmal ein weiteres Nickerchen machen. Gute Nacht und bis später!

Die nächsten Tage bin ich damit beschäftigt: Leckere Fohlenmilch zu trinken, meine Beine zu trainieren und wissbegierig meine Umgebung zu erkunden.
Wie schaffen es die Menschen, dass sie nur auf zwei Beinen stehen und laufen können? Ich finde es mit vier Beinen schon schwer genug.
Es ist amüsant, wie die Menschen vor meiner Box stehen und Mama und mich bewundern. In diesen Momenten der Beobachtung gebe ich mich besonders vornehm. Dann stolziere ich durch die Box mit erhobenen Kopf, schaue die Besucher mit einem zuckersüßen Blick an und bewege meinen flauschigen Schweif hin und her. An mein teddyweiches Fell lasse ich jedoch niemanden, außer Mama natürlich. Sobald mich jemand anfassen möchte, eile ich zu meiner Beschützerin.
Mama hat recht, ich wachse jeden Tag ein klein wenig. Mittlerweile bin ich mutig geworden. Von sympathischen Menschen lasse ich mich mittlerweile anfassen, aber nur, wenn meine Mama in der Nähe ist. Sicher ist sicher.
Das Leben ist wahnsinnig aufregend. Jeden Tag entdecke ich neue Dinge. So habe ich festgestellt, dass Mama und ich nicht die einzigen Pferde hier auf dem Hof sind. Leider habe ich unsere Kameraden noch nicht kennengelernt. Wir stehen in einer Stuten- & Fohlenbox, etwas abseits von den anderen, damit ich mich langsam an alles gewöhnen kann. Menschen können ja so nett sein.

So, vergehen Wochen und Monate … das Wetter ist jetzt so herrlich. Vor ein paar Tagen durfte ich bereits mit auf die Koppel. Das macht riesigen Spaß. Stundenlang tobe ich dann auf einer traumhaft schönen Wiese umher.
Mein Fohlenleben ist großartig. Meine Mama hat mir erklärt, dass unsere Besitzer nett und fürsorglich zu uns sind. Das heißt, sie sorgen für ausreichend Futter, einen sauberen Stall, für Bewegung und bei Bedarf rufen sie den Tierarzt.
Ich bin nicht schlau genug, um dies beurteilen zu können. Mittlerweile sind wir in die große Stallgasse umgezogen. Hier gibt es herrlich viel zu sehen. In unserer Nachbarbox steht eine Schimmelstute namens Emma. Wenn das alles stimmt, was sie mir erzählt, dann kann ein Pferdeleben sehr scheußlich sein. Bevor Emma zu uns in den Stall kam, war ihr Leben erbärmlich. Ihre Besitzer und Reitbeteiligungen schauten nur gelegentlich nach ihr. Die meiste Zeit stand sie in einer viel zu kleinen Box, die nur selten gemistet wurde. Die Luft dort war stickig und es gab nur wenig Tageslicht. Wenn jemand zu Emma kam, wurde sie stundenlang durchs Gelände gejagt. Egal wie die Wege aussahen, Emma musste ständig galoppieren. Tage danach litt sie noch unter Muskelkater und die Gelenke schmerzten. Ist das nicht schrecklich, hoffentlich kann ich für immer hier auf dem Hof bleiben. Ich glaube, jetzt verstehe ich, was Mama meint, dass wir nette Besitzer haben.
Mittlerweile ist Emma eine glückliche Stute. Ihre neuen Besitzer sind sehr fürsorglich. Regelmäßige und abwechslungsreiche Bewegung, sowie Wellnessprogramme gehören jetzt zu ihrem Alltag. Aus Dankbarkeit und Freude begrüßt sie ihre Menschen jedes Mal mit einem fröhlichen Wiehern. Auch sonst versucht Emma, ihren Eigentümer immer eine Freude zu machen. Unter dem Sattel verhält sie sich vorbildlich, nie würde sie etwas tun, was ihren Reiter in Gefahr bringen würde.
Mit Emma darf ich fast täglich auf die Koppel zum Toben und Spielen. Ach, das Leben ist so schön. Heute waren wir besonders lange auf der Weide. Emma, Mama und ich haben ausgiebig getobt, uns im Bach herrlich erfrischt und viel vom saftigen Gras gefressen.
Am Abend klagt meine Freundin: „Oh, mein Bauch tut so weh!“
Emma ist total unruhig, legt sich hin und steht wieder auf, ihr Fell ist nass geschwitzt. Das kann doch nicht normal sein.
„Mama schau, Emma geht es schlecht. Wie können wir ihr helfen?“, frage ich besorgt. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, so ein Mist. Aber meine schlaue Mama hat eine Idee:
„Wir werden versuchen, die Menschen durch Lärm auf uns aufmerksam zu machen. Sie braucht unbedingt einen Tierarzt. Lass uns laut und schrill wiehern, ich trete zusätzlich gegen die Boxenwand. Hoffentlich hört uns jemand“, erwidert meine Mama.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen endlich Menschen zu uns in den Stall. Zum Glück erkennen sie, dass Emma dringend Hilfe benötigt. Bis zum Eintreffen des Tierarztes wird die Stute von ihnen geführt.
Als Emma ihre Box verlässt, schaut sie dankbar zu uns herüber und meint: „Danke, ich denke, bald geht es mir wieder besser.“
Der herbei gerufene Arzt untersucht meine Kameradin und hilft ihr. Sie bekommt eine Spritze und wird weiterhin im Schritt geführt. Außerdem hat sie bis zum nächsten Tag absolutes Fressverbot.
Ich bin so froh, dass es meiner Stutenfreundin bald wieder gut gehen wird. Jetzt weiß ich, was es bedeutet, wenn Pferdefreunde fürsorglich sind.
Zum Glück ist nicht jeder Tag so aufregend wie der heutige. Ich wünsche uns Pferden und allen anderen Lebewesen nur nette und freundliche Menschen. Wir Tiere, egal welcher Rasse und Größe, haben eine Seele und einen Körper, die artgerecht, liebevoll und respektvoll behandelt werden möchte.
Okay, ich bin ehrlich, diese Weisheit stammt unmöglich von mir, sondern von meiner Mama. Sie hat es mir solange fohlengerecht erklärt, bis ich es verstanden habe. Sie ist der Meinung, dass man nicht früh genug lernen kann, dass man alle Lebewesen respektvoll behandeln soll.
Nach so einem aufregenden, lehrreichen und anstrengenden Tag brauche ich jetzt meinen wohlverdienten Schlaf. Bevor ich einschlafe, kuschle ich mich gemütlich in mein sauberes Strohbett. Es ist so schön zu wissen, dass meine Mama bei mir ist und auf mich aufpasst. Ich bin gespannt, was ich heute träumen werde …

Oh, ist es herrlich hier. Eine riesengroße Steppe wird von einer irrsinnig großen Pferdeherde bewohnt. Es gibt keinerlei Einzäunungen, dafür jedoch wundervolle Wälder, Bäche mit klarem und kühlem Wasser, Hügel und vielen mehr – ist dies das Pferdeparadies?
Die Herde besteht aus den unterschiedlichsten Altersstufen. Ich tobe ausgelassen mit anderen Fohlenfreunden umher. Wir lassen uns nass regnen, wälzen uns im Sand und ärgern unsere Mütter.
Unter uns Fohlen gibt es ein total süßes Hengstfohlen. Er ist wunderhübsch, und hat einen durchtrainierten Körper. Sein Fell schimmert wie Gold, der Gesichtsausdruck ist so niedlich.
Ich glaube, ich bin verliebt. Wir verstecken uns im Wald, kraulen uns gegenseitig die Mähnen und reden viel miteinander. Besonders gerne spotten wir über die anderen Fohlen. Das muss jedoch unter uns bleiben, sonst bekommen wir Ärger mit unseren Müttern. Anschließend toben wir erneut, baden im Sand und lassen uns das leckere Steppengras schmecken.
So ein Leben als Wildpferd ist herrlich. Ich bin mir sicher, mein Traumhengst wird später die Leitposition unserer Herde übernehmen. Er wird mich beschützen und allen anderen Stuten vorziehen. Ich freue mich auf diese Zeit …
Hey, wer stupst mich denn da an? Was soll das? Ich öffne die Augen und schaue irritiert umher. Habe ich dies etwa nur geträumt?
Als ich richtig wach bin, schwärme ich von meinem faszinierten Traum. Mit voller Überzeugung erkläre ich: „So wird mein Leben aussehen, sobald ich erwachsen bin.“
Mama lächelt amüsiert. Doch ich bin mir sicher, dass der Wunschtraum in Erfüllung geht. Ich „Chantal“ werde mit dem gutaussehenden zukünftigen Leithengst über weite Wiesen toben und viele niedliche Fohlen bekommen.
Meine Mutter widerspricht: „Süße, so kann dein Lebenstraum nicht aussehen. Solch eine Steppe wirst du nirgends finden. Die Geburten von uns Pferden werden geplant, so etwas nennt man Zucht. In der Wildnis gibt es weder Tierarzt noch Hufschmied. Das Futter muss man selbst suchen und lange Wege dafür zurücklegen. Ältere und kranke Tiere sterben, weil sie in der Natur keine Überlebenschance haben. Ich bin froh, hier leben zu dürfen.“
„Woher weist du das? Hast du schon einmal versucht, die Steppe zu finden?“, frage ich zweifelnd.
„Nein, das habe ich noch nicht …“
Ich unterbreche meine Mutter verärgert: „Wenn du nie nach ihr gesucht hast, kannst du nicht wissen, ob sie existiert. Ich werde sie solange suchen, bis ich sie entdecke!“
Ich beende das Gespräch und wende mich ab. Im tiefsten Inneren hoffe ich inständig, dass meine Mutter nur dieses eine Mal im Unrecht ist und mein Traum tatsächlich in Erfüllung geht!

ENDE

Die Autorin

Susanne Horn ist eine Autorin mit Handicap. Gerade ihre Lese- Rechtschreibschwäche motiviert sie, Geschichten zu schreiben, um ihren Mitmenschen Mut zu machen und ihre Träume zu leben. Bist du neugierig geworden? Wenn ja, stöbere ein wenig auf ihrer Homepage www.susannehorn.jimdo.com umher.

Ein Beitrag zum Projekt #litkinder. Hier findet ihr alle Beiträge.

Foto: Seitenkünstler Aaron, Illustration: Buchstaplerin Maike

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

1 Kommentar

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    Ich liebe Pferdegeschichten

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