In ihrem Debütroman „Snowflake“ erzählt die irische Autorin Louise Nealon von einer Familie, psychischer Krankheit und einem Aufbruch. Ihr gelingt damit weitaus mehr als nur eine gewöhnliche Coming-of-Age-Story, findet Worteweberin Annika.
Bisher kam Debbie einmal im Jahr nach Dublin, um die Weihnachtsbeleuchtung zu sehen. Jetzt hat sie einen Studienplatz am Trinity College ergattert und fühlt sich wie ein Fremdkörper in der großen Stadt. Auch wenn die Milchfarm, auf der sie aufgewachsen ist, nur einige Zugstationen entfernt liegt, wird Debbies Leben in Dublin doch komplett auf den Kopf gestellt. Ein Jahr lang pendelt sie zwischen der Großstadt und dem Landleben hin und her, zwischen neuen Freund*innen und der Familie, wilden Partys und dem Kuhstall. Insbesondere Xanthe, bei der Debbie in Dublin übernachten kann, wird ihr Ankerplatz in der neuen Welt.
So weit, so gut – dieser Strang des Romans erfüllt alle Voraussetzungen einer klassischen Coming-of-Age-Story. Aber im Roman geht es nur selten um das Uni-Leben und nur wenige Kapitel spielen in Dublin. Tatsächlich haben die mich auch weniger eingenommen als die anderen – denn „Snowflake“ erzählt eben noch mehr.
Träume ich?
Immer öfter scheinen Debbies Träume nämlich Wirklichkeit zu werden. Ist sie verrückt – wie ihre Mutter, die auf die Kraft von Träumen schwört und nur selten ihr Zimmer verlässt? Oder steckt mehr dahinter? Dann stellt ein Unfall ihre Familie auf den Kopf und wirf ihr Leben und das ihrer Mutter weiter aus der Bahn. Bald gerät die Situation zu Hause so aus den Fugen, dass Debbie allein nicht mehr zurechtkommt. Doch davon bekommt lange nicht einmal ihr Onkel Billy, der in einem Wohnwagen vor dem Haus lebt, etwas mit. Die Verunsicherung und die Probleme der Mutter lösen bei der jungen Studentin eine Depression aus.
Die Kapitel, die im Heimatdorf spielen, wirken im Roman besonders stark. Die Autorin zeichnet ungewöhnliche Figuren, zeigt das schroffe Landleben und die Menschen dort mit viel Liebe. Durch diesen Strang der Erzählung kommt das Thema psychischer Erkrankung aufs Tapet und es wird deutlich, wie schwierig es ist, Hilfe zu suchen. Dem gegenüber steht das Poetische, das Motiv der Träume und die Figur des Billy, der mit seiner Nichte die Sterne beobachtet, griechische Sagen liebt und mit der Wünschelrute loszieht. In seiner Figur wird das Gegensätzliche deutlich, das die Beschreibung von Debbies ganzem Alltag auf dem Land prägt, denn Billy liebt nicht nur Göttersagen, sondern auch den Alkohol…
Brüchige Protagonistin
Schwierigkeiten hatte ich beim Lesen gelegentlich mit der Protagonistin selbst. Sie wirkt auf mich eher inkonsistent: Einerseits tritt sie selbstsicher auf, wenn sie die Jungs in ihrem Dorf reihenweise küsst oder bei Partys in der Stadt Männer abschleppt. Andererseits ist sie sehr unsicher, wenn es um die Großstadt oder um Gefühle geht. Durch diesen Bruch hatte ich teilweise Probleme, mich in sie einzufühlen – möglich, dass das auch an ihrer Depression liegt, die im Roman so nie benannt wird. Dennoch ist sie mit viel Sympathie beschrieben und ihre Handlungen bleiben nachvollziehbar.
Die Autorin erzählt eine ungewöhnliche Coming-of-Age-Story, in der sie Motive wie das Leben in der Stadt und auf dem Land, psychische Krankheit und das Übernatürliche verbindet. Sie erzählt unaufgeregt und ist nah an den Figuren. Trotz kleiner Kritikpunkte möchte ich „Snowflake“ empfehlen.
Snowflake. Louise Nealon. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll. Mare. 2022.
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