Das Debüt von Ruth-Maria Thomas „Die schönste Version“ hat es in sich, findet Satzhüterin Pia. Ein schonungsloser, berührender und intensiver Roman über eine junge ostdeutsche Frau der Nullerjahre – und ihre Beziehungen.
Bitte beachtet die Contentwarnung: häusliche Gewalt, toxische Beziehungen
„Der Wartebereich: ein langer Gang, von dem Zimmer mit unregelmäßig verteilten Nummern abgehen. Der Boden: graues PVC, die Wände holzgetäfelt. Eine meterlange Leuchtstoffröhre an der Decke surrt. Sie ergrellt den Raum, und obwohl es draußen hell ist, fühle ich mich, als sei es mitten in der Nacht.“ (S. 10)
Es beginnt mit Tag 1: Die Protagonistin Jella befindet sich auf der Polizeiwache. Sie zeigt ihren bisherigen Partner Yannick an – er hat sie geschlagen und gewürgt. Wie konnte es so weit kommen, fragen sich nicht nur die Leserinnen und Leser, sondern auch Jella selbst. Verletzt, gedemütigt und schockiert zieht sie zurück in ihr altes Kinderzimmer bei ihrem Vater und hangelt sich von Tag zu Tag.
Eindringlich und ziemlich schonungslos erzählt Ruth-Maria Thomas Jellas Geschichte. In Rückblicken erfährt man mehr über ihr Leben, ihre Beziehungen, die Misogynie, also den internalisierten Frauenhass, dem die gesamte Gesellschaft ausgesetzt ist. Ein Leben, geprägt von patriarchalen Strukturen und geringem Selbstwertgefühl.
Auf der Suche nach der eigenen schönsten Version
Jella geht im Grunde nur toxische Liebesbeziehungen ein – je mehr man in den Rückblicken von ihrem Leben erfährt, desto mehr kann man ihre Handlungsweise nachvollziehen. Oder vielmehr die Gründe dafür eruieren.
Die Geschichte ist wie eine Ansammlung von Situationen, die vor allem Frauen aus ihrem Leben kennen werden: Wer hat sie nicht gelesen, die „10 Tipps, wie du attraktiver für deinen Schwarm wirst“-Beiträge aus der „Bravo“ oder „Mädchen“. Dort erfährt das junge Mädchen dann, wie es alles komplett nach dem Typen ausrichten soll, was es sagt, anzieht, wie es wirken soll. Fürs Leben gelernt, leider. Und mit diesen Tipps endet es nicht. Es geht immer und überall so weiter, bis junge Frauen endgültig verinnerlicht haben, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse immer und überall zurücknehmen müssen und bloß nicht auffallen sollten.
Pageturner der anderen Art
Die Geschichte von Jella ist fesselnd. Die Autorin zeichnet mit einer bemerkenswerten Beobachtungsgabe und intensiven Szenenbeschreibung Jellas Leben nach. Sie gibt Schlaglichter auf einzelne Situationen, die so sehr das Leben der jungen Frau prägen, dass sich die Partnerschaft immer toxischer entwickelt.
Thomas bearbeitet in dem Buch intensiv einen Trauma-Plot, der aber nicht bei der „schlichten“ Situation einer Täter-Opfer-Beziehung stehen bleibt. Es gibt kein Schwarz und Weiß, alles ist durchzogen von Grauzonen. Die Schuld liegt nicht bei einer Person alleine und es gab nicht die eine Situation, die zu diesem Ende der Beziehung geführt hat.
„Die schönste Version“ ist ein fesselndes Buch, das sich schnell und sehr gut lesen lässt. Das Thema, eigentlich sehr bedrückend, ist spannend erzählt, in einer schlichten, manchmal rohen Sprache, die aber trotzdem nicht zu vulgär ist. Lediglich eine Contenwarnung hätte dem Text vorangestellt werden sollen.
Die schönste Version. Ruth-Maria Thomas. Rowohlt. 2024.
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