Mein Monster und ich

von | 28.10.2018 | #Todesstadt, Kreativlabor, Specials

Es ist Samstag, die Sonne scheint bei 32 Grad und ich kann mir vorstellen, dass sich ein Großteil der Nachbarschaft momentan im Freibad um die Ecke aufhält. Sie essen Pommes, werden braun und kühlen sich im kalten Wasser ab. Ob ich neidisch bin? Natürlich. Wieso ich nicht auch draußen bin? Mein Monster mag Menschenmassen nicht. Es mag keinen Lärm und gesehen werden mag es eigentlich auch nicht. Es ist bei mir, seit ich den kleinen Nervenzusammenbruch hatte. Mein Arzt hat mir erzählt, dass mein Monster Depression heißt, aber Ressi finde ich irgendwie niedlicher, obwohl es auch richtig fies sein kann.

Ressi und ich verbringen viel Zeit in meiner Wohnung. Wir schlafen lange, meistens bis in den Nachmittag hinein, essen und bewegen uns auch wenig. Manchmal schlurfe ich durch meine Wohnung und sehe aus wie ein Zombie. Früher hätte es mich gestört. Auch wie unordentlich und vollgemüllt mein Zimmer ist, aber ich habe keine Kraft, mich darüber aufzuregen. Ressi nimmt mir all diese Energie, aber das ist schon in Ordnung, denn dafür bringt er mich häufig zum Nachdenken und lässt mich alles hinterfragen. Insbesondere den Sinn des Lebens und warum ich eigentlich auf der Welt bin. Fast wie ein echter Philosoph. An schlechten Tagen finde ich ab und zu noch Antworten und Gründe. An sehr schlechten Tagen möchte ich mich einfach auflösen und Teil des Universums werden, wo ich so klein bin, dass ich niemandem mehr auffalle und wo alles still ist.

Mein kleines Monsterchen unterstützt meine Wünsche und versteht mich. Es findet es auch nicht schlimm, wenn ich ein paar Tage nicht dusche oder meine Zähne putze, oder wenn ich die Anrufe meiner ehemaligen Freunde ignoriere, weil ich mich dafür schäme, wer ich bin.

Es ist der optimale Zeitpunkt, um einkaufen zu gehen. Die Menschen genießen das Wetter und stehen an der Eisdiele an und nicht an der Supermarktschlange. Je weniger Menschen mich wahrnehmen, desto besser. Mein Blick in den Spiegel und Ressis abfälliges „Bah“ lassen mich kurz zweifeln, aber ich brauche etwas, um mich vor mir zu trösten. Dass ich zu schwach bin, um etwas zu ändern und es mich oft nicht einmal stört. Ob Süßigkeiten oder Alkohol weiß ich noch nicht.

„Willst du wirklich rausgehen? Hm? Alle werden dich anstarren. Sie werden sehen, dass du ein Problem hast. Hm?“ Ressi hat heute wirklich schlechte Laune. Den Kopf eingezogen, warte ich an der Ampel, die ewig auf Rot steht, und überquere nach einer Ewigkeit mit schnellem Schritt die Straße. „Die Menschen sehen dir an, dass du nicht arbeiten gehst und ein Schmarotzer bist, hm? Trägst nichts Wertvolles bei, sondern bist nur Zuhause. Lass uns da schnell wieder hingehen, hm? Da haben wir unsere Ruhe.“

Vor dem Süßigkeitenregal steht eine junge Frau, die mich anlächelt, während ich eilig an ihr vorbeigehe. Ich lächele vorsichtig zurück, bis Ressis Stimme wieder in meinem Kopf erscheint. „Haha, sie hat dich nur aus Mitleid angelächelt. Du weißt doch wie du aussiehst, hm? Sie würde mit mir nicht klarkommen. Das kann niemand, hm?“ Ich gebe meinem Monsterchen still Recht und schnappe mir eine Packung Toffifee – nein, zwei! – und gehe zum Alkohol. Eigentlich mochte ich ihn nie so sehr, als dass ich mich jede Woche betrunken hätte, aber Ressi liebt ihn und wird etwas freundlicher zu mir, wenn ich etwas intus habe. Das ist manchmal sehr angenehm.

Zuhause angekommen, mache ich direkt die erste Flasche leer. Es ist ja auch schon fast 18 Uhr und der Ausflug zum Supermarkt war sehr anstrengend. Die dritte Nuss im Toffifee war überraschend hart und mein Zahn tut plötzlich ziemlich weh. Zum Arzt gehe ich allerdings nur selten. Was soll ich ihm denn erzählen? Ja, ich schlafe meistens einfach ein und vergesse, meine Zähne zu putzen. Mein Monster mag Zähne putzen auch nicht. Wozu Zähne putzen? Ich esse eigentlich eh kaum noch was. Bier sättigt ja auch und die Rechnungen kann ich sowieso nicht zahlen. Ich höre Ressi bei meinem Gedankengang kichern und fange selber an.

Als die Uhr kurz nach zwei anzeigt, finde ich, dass es der richtige Zeitpunkt ist, um meinen Bruder anzurufen. Natürlich geht seine Mailbox ran. Ich frage, wie es den Kindern geht und erzähle, dass ich wieder anfangen will zu arbeiten, aber nicht kann. Wie soll ich es denn schaffen, früh aufzustehen? Außerdem wird Ressi immer sauer, wenn ich vor 15 Uhr wieder anfange nachzudenken. Ich lalle noch ein paar Minuten weiter auf den Anrufbeantworter bis ich ganz unerwartet anfangen muss zu weinen.

„Du bist peinlich, hm? Leg auf! Sonst denkt dein Bruder wieder nur, was du für ein Waschlappen bist.“ Ich atme ein paar Mal tief ein und aus und fange an, eine Liste zu schreiben, was ich morgen alles erledigen und schaffen will. Ressis Gegacker versuche ich soweit es geht auszublenden. Als ich fertig bin, bin ich zufrieden. Der erste kleine Schritt ist getan. Ab morgen wird alles besser. Nein. Ab jetzt. Ich werde meine drei Müllsäcke jetzt noch rausbringen. Die Treppen drehen sich, aber ich schaffe es ohne zu stürzen zum Container. Ich lächle. Dass ich das noch kann, wusste ich gar nicht, ich lächle noch breiter und schaue in den Himmel und sage zum Universum, dass es noch auf mich warten muss, da ich jetzt erstmal eine Liste habe und ich das erste Mal seit Monaten zufrieden bin.

Ich merke erst, dass ich auf die Straße getaumelt bin, als ich das laute, durchdringende Hupen höre und ich spüre, wie ich durch die Luft fliege. Es wird alles still. Selbst mein Monster schweigt. Für immer.

Text: Poesiearchitektin Lena
Illustration: Federschreiberin Kristina

[tds_note]Ein Beitrag zum Special #Todesstadt. Hier findet ihr alle Beiträge.[/tds_note]
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