Für jeden ist etwas anderes wichtig. Was würdest du nehmen? Was würdest du schützen? Das sollte eigentlich zum Denken anregen. Was würde die Welt verlieren, wenn wir das nicht tun? Der Tod selbst, finde ich, spielt nicht so eine dramatische, wichtige Rolle.
Montagmorgen, 06. November 2017, 10 Uhr: Das Piratenschiff wird gestürmt. In der Kinderabteilung der Stadtbibliothek Bremen geht es bunt zu. Eine zweite Klasse rückt sich auf den Sitzreihen zurecht. Zur Lesung von „Der geheimnisvolle Koffer des Herrn Benjamin“ sind aber auch ein paar Erwachsene erschienen, darunter Zeilenschwimmerin Ronja, und genauso gespannt wie die Kinder.
Die Autorin Pei-Yu Chang stellt sich vor. Sofort schießt eine Hand nach oben: „Das ist ein chinesischer Name.“ Pei-Yu Chang wuchs in Taiwan auf und studierte dort Deutsche Kultur, Sprache und Literatur. Im Jahr 2016 schloss sie ihr Studium an der Universität Münster in Kommunikationsdesign und Illustration mit eben jenem Bilderbuch ab, um das es heute geht.
„Was denkt ihr denn, wer Herr Benjamin war?“ Die Antworten sind vielseitig, vielleicht ein Zauberer oder Detektiv. Herr Benjamin – Walter mit Vornamen – war Philosoph und Pei-Yu Chang erzählt seine Geschichte, die mit einem großen Rätsel endet: Was Herr Benjamin wohl in seinem Koffer hatte? Wenn es nach den Kindern geht: Süßigkeiten, ein Kuscheltier, Zahnbürste, Zahnpasta, einen Zombie, Flugzeuge oder Pferde. Vielleicht ist es aber auch ein magischer Koffer, in den man hineinsteigt und dann an einem anderen Ort wieder auftaucht. Anschließend können alle selbst noch einen geheimnisvollen Koffer basteln und sich überlegen, was sie mitnehmen würden. Ich bekomme auch einen Bastelbogen, allerdings sind die Ideen der Kinder weitaus kreativer. Später beantwortet Pei-Yu Chang mir noch ein paar Fragen:
ZR: Wie bist du auf Walter Benjamin und seinen mysteriösen Koffer als Thema für dieses Buch gekommen?
P-YC: Wie gesagt, 2016 habe ich den Abschluss gemacht. Angefangen zu überlegen, welches Thema ich machen will, habe ich im Sommer 2015. Das war gerade die Zeit, in der die Flüchtlinge sehr stark in den Medien thematisiert wurden; die Länder streiten, nehmen wir auf, nehmen wir nicht auf, und welche Grenze setzen wir. Das war quasi der erste Gedanke für mich: Eigentlich braucht man ein Buch für Kinder darüber. Also war für mich klar, ich möchte ein Buch zum Thema Flucht machen. Aber es war mir auch klar: Ich möchte nicht noch eine Opfer-Geschichte erzählen. Denn ich finde, das war sehr stark in den Medien. Aber trotzdem bleiben diese Flüchtlinge immer mehr oder minder Flüchtlinge, das ist so dieser Begriff. Und ich finde, das ist sehr reduziert. Wenn ich jetzt noch eine tragische Geschichte mache, dann ist das auch sehr reduziert. Ich finde, es steckt viel mehr dahinter.
Und das war dann die schwierige Aufgabe. Ich wollte gerne einen Zugang dazu finden, aber wie? Da habe ich sehr lange überlegt. Und da hatte ich ein bisschen Glück oder vielleicht sieht man es halt, wenn man sucht: Ich war in Marbach im Literaturmuseum der Moderne. Die hatten da gerade eine Ausstellung über die künstlerische Originalität. Und da wurde eben auch dieser Koffer erwähnt. Durch seine Abwesenheit hat er so ein besonderes Gewicht bekommen in der Literaturgeschichte. Das war eigentlich eine Zeile nur. Und dann dachte ich aber: Das ist interessant! Das ist eine Räumlichkeit, die man fast nie erreichen kann. Das ist fast schon eine Schatztruhe, finde ich. Und dann dachte ich: Mhm, irgendwie spannend. Also habe ich recherchiert. Eigentlich erst aus eigenem Interesse, weil ich Walter Benjamin gerne gelesen habe. Ich mag ihn gern.
Dann habe ich die Parallele von damals und jetzt gesehen, und dachte: Ey, das wäre eigentlich eine interessante Herangehensweise! Damals musste man von Deutschland hinaus fliehen und heute versuchen Leute, hereinzukommen und wir diskutieren hier. Aber damals waren ja die Leute hier diejenigen, die Hilfe brauchten und die darauf angewiesen waren, dass die Leute helfen. Das fand ich sehr interessant, dieser Aspektwechsel. Und dazu der Koffer natürlich, der tatsächlich da war und immer noch nicht wieder da ist. Dieses Rätsel darum herum, das finde ich sehr spannend.
ZR: Walter Benjamins Geschichte ist ziemlich tragisch. Er wurde von den Nazis verfolgt, musste fliehen und beging schließlich Selbstmord. Wie war deine Herangehensweise, um das zu einem Kinderbuch zu machen?
P-YC: Es hat tatsächlich sehr lange gedauert, dieser ganze Prozess. Die meiste Zeit habe ich damit verbracht: Wie schreibe ich diese Geschichte? Und ich habe auch ein paar Mal Erzählerwechsel gehabt. Ich habe auch zwischendurch überlegt, ob man ein Kind in diese Geschichte hineinsetzt. Vielleicht ist es euch aufgefallen oder auch nicht: Das ist eine Geschichte komplett ohne Kinder, es gibt nicht mal Jugendliche. Und das ist eigentlich für ein Kinderbuch schon ungewöhnlich.
Ich habe sehr lange überlegt: Wer erzählt die Geschichte? Wer ist überhaupt dabei? Und dann natürlich genau diese Frage: Wie behandle ich den Selbstmord? Lasse ich das passieren? Eigentlich finde ich es unumgänglich, aber letztendlich – nach der Bearbeitungsphase – habe ich mir gedacht, dass es eigentlich sehr gut ist, wenn ich die Geschichte so weit vereinfache, dass es universell funktionieren kann. Ich möchte, dass es eine Geschichte ist, die man für damals lesen kann aber auch für jetzige Situation. Aber auch ohne, dass man Walter Benjamin kennen muss, dass man die Geschichte der Nazis kennen muss. Ich wollte eine Struktur schaffen wie eine Parabel oder eine ganz reduzierte Form, die man aber als Kind auch verstehen kann. So habe ich danach viele Entscheidungen getroffen. Zum Beispiel werden die Nazis nicht erwähnt, die Juden werden auch nicht genannt. Sehr viele dieser historischen Details habe ich sehr dezent eingesetzt für Leute, die es verstehen. Das muss aber nicht.
Noch mal zurück: Es geht mir wirklich nicht darum, eine Tragödie zu erzählen. Es geht mir in dieser ganzen Geschichte nicht darum, dass er diesen tragischen Selbstmord begangen hat. Es geht mir mehr darum, dass wir heute trauern, dass er es nicht geschafft hat. Aber was würden wir tun? Der Koffer gibt natürlich den Raum dazu. Für jeden ist etwas anderes wichtig. Was würdest du nehmen? Was würdest du schützen? Das sollte eigentlich zum Denken anregen. Was würde die Welt verlieren, wenn wir das nicht tun? Der Tod selbst, finde ich, spielt nicht so eine dramatische, wichtige Rolle.
ZR: Was war denn eigentlich zuerst da: der Text oder die Bilder?
P-YC: Das allererste von diesem Projekt war eine Mind-Map mit einem gemalten Bild daneben. Das ist ein bisschen der Vorteil, wenn man selber schreibt und malt. Es fließt natürlich alles ineinander. Das ist oft so ein Zusammenfließen. Wenn ich schreibe, denke ich sehr oft: Wie könnte das visuell aussehen? Es ist so, die erste Zeit habe ich tatsächlich mehr geschrieben. Aber weil ich selber schreibe und male, habe ich mich gedanklich natürlich auch schon mit der Illustration beschäftigt.
ZR: Wie bist du zum Studium der Deutschen Kultur, Sprache und Literatur gekommen?
P-YC: Oh, das ist eine lange Geschichte. Kurz gesagt: Ich wollte immer Kunst machen. Und das war sehr schwierig für meine Familie. Das heißt auch sehr lange Zeit Stress in der Familie. Und letztendlich habe ich aufgegeben. Bei uns gibt es auch solche Sonder-Kunstschulen, zu denen man gehen kann. Letztendlich bin ich zu einem normalen Gymnasium gegangen, ich habe aufgegeben sozusagen. Und dann habe ich überlegt: Was kann ich sonst noch gut? Und komischer Weise – ich bin schon immer ein Sturkopf – habe ich da halt auch schon gedacht: Ich mache einen normalen Beruf und dann mache ich halt mit dem Verdienst meine Kunst. Dann habe ich überlegt: Was kann ich? Und ich war halt immer sehr gut in Fremdsprachen und Literatur. Ich wollte eigentlich erst Englische Literaturwissenschaft studieren. Da hatte aber meine Gymnasiallehrerin gesagt, dass der Markt eigentlich schon überfüllt war. Wir haben sehr viele Anglisten. Gut, dachte ich, dann mache ich etwas anderes.
Damals war es noch so in Taiwan: Alle Schüler, alle Gymnasiasten, schreiben an den gleichen Tagen im ganzen Land eine Art Staatsexamen. Die Fragen sind alle einheitlich und die Prüfungszeit ist einheitlich. Und dann bekommst du für jedes Fach eine Note und je nachdem, was du studieren willst, kriegst du so eine mathematische Formel. Zum Beispiel, wenn du Sprachwissenschaft und Geisteswissenschaft studieren willst, dann wird dein chinesisches Fach oder englisches Fach zu 150 Prozent berechnet, Mathe aber dafür nur zu 70 oder so. Das ist sehr kompliziert, deshalb kriegt jeder am Ende so eine Kartei und ein Heftchen und eine Seriennummer für die Uni und die Fakultät. Du trägst das alles in dieser Kartei ein und dann wird das von einem Computer berechnet. Das heißt, ich habe eigentlich Deutsche Literatur, Französische Literatur, Spanische, alle eingetragen, weil ich gerne eine Fremdsprache studieren wollte. Aber ich wusste letztendlich nicht, welche ich bekommen würde. Das hat der Computer ausgerechnet.
Jetzt ist das nicht mehr so, aber damals, als ich mich beworben habe, gab es noch dieses System. Ich habe nicht entschieden, ich hatte nur Wünsche und dann hat der Computer gesagt: Ja, Deutsche Literatur. Erst war ich enttäuscht. Warum habe ich nicht Französische Literatur bekommen? Aber letztendlich, denke ich, passt es sehr gut zu meiner Mentalität, weil die Deutsche Sprache eine sehr philosophische und sehr analytische Sprache ist. Das habe ich nach sehr vielen Jahren immer mehr festgestellt und ich glaube, das passt gut zu mir, wirklich. Und Jahre später habe ich mal versucht, Französisch zu lernen. Ich möchte es auch immer noch, wenn ich Zeit habe. Aber das ist eine chaotische Sprache! Die Grammatik vor allem. Da habe ich nochmals gedacht: Ja, der Computer hat sehr gut ausgesucht.
ZR: Die globale° ist ja ein Festival für grenzüberschreitende Literatur. Ich habe gelesen, du reist sehr gerne. Welche Grenzen hast du bereits überschritten und welche würdest du gerne noch überschreiten?
P-YC: Oh, gute Frage. Zwei Reisen waren für mich wichtig und haben was mit diesem Projekt zu tun oder warum ich immer wieder zu diesem Thema zurückkomme. Ich mache jetzt auch wieder etwas über Krieg. Ich war 2014 in Israel und das war für mich eine ganz besondere Reise. Und dann ein Jahr später war ich in Polen, in Krakau und in dem Zusammenhang war ich auch in Auschwitz. Das sind zwei Reisen, die für mich natürlich erst mal etwas Exotisches haben. Aber es waren für mich wirklich auch grenzüberschreitende Erlebnisse.
Einmal, in Israel, wären wir fast in einen Terroranschlag geraten. Wir haben den Raum verlassen, eine Stunde später ist da ein Terroranschlag. Bevor wir eingereist sind – das war die Zeit, in der gerade Krieg war – wir sind mit einer ganz anderen Vorstellung hingegangen, mit einem ganz anderen Bild. Aber die Leute da sind wirklich sehr, sehr entspannt, wirklich offen. Und das ist für mich so eine augenöffnende Erfahrung, weil man so viele Vorstellungen hat, Vorstellungen vom Flüchten. Aber sehr oft ist das vielleicht schon medial inszeniert oder gestaltet, was wir am Ende sehen. Und ich war wirklich dort, ich habe mit den Menschen geredet, habe die Stadt angeguckt. Das war etwas ganz anderes, als das, was ich so mitbekommen habe von den Medien. Das ist für mich zum Beispiel sehr interessant und ich glaube auch sehr wichtig. Wenn man etwas schaffen will, man muss es wirklich sehen, erleben.
Welche Reiseziele … Ich glaube tatsächlich, das ist eine sehr schwierige Frage und ich würde jetzt gar nicht einen konkreten Ort nennen. Aber ich glaube, was ich für mich entdeckt habe ist: Die besten Geschichten stecken immer im realen Leben. Und ich wünsche mir sehr, egal wo ich hingehe, dass ich das mit solchen Augen sehen kann.
ZR: Du hast bestimmt viele Ideen für weitere Bücher. Ist da schon etwas in Arbeit?
P-YC: Also ich mache gerade ein neues Bilderbuch mit einer Schriftstellerin zusammen, Antonie Schneider. Und das behandelt die drei Weltreligionen und ist inspiriert von der Ringparabel von Lessing. Antonie Schneider hat einen ganz fantastischen, poetischen Text geschrieben, in dem sie Schnee als Metapher nimmt. Da arbeiten wir gerade zusammen. Das ist ein ganz besonderer Text, ein anspruchsvoller Text über Frieden, über Toleranz, über Respekt, über Ich und der Fremde oder Wir. Das kommt nächsten Herbst heraus, auch bei NordSüd.
ZR: Was glaubst du denn, was in Herrn Benjamins Koffer drin ist?
P-YC: [lacht] Das kommt sehr oft als letzte Frage. Aber ich finde, als Autorin kann ich persönlich keine Antwort dazu geben. Ich möchte keine Richtung oder Tendenz geben. Ich glaube, da sollte man wirklich der Phantasie den Raum lassen.
Der geheimnisvolle Koffer des Herrn Benjamin. Pei-Yu Chang. NordSüd Verlag. 2017. Ab 4 Jahren. Website der Autorin: www.peiyuchang.de. Das Interview wurde zuerst hier veröffentlicht. Bild: Privat
Ein Beitrag zum Special #philosophiestadt. Hier findet ihr alle Beiträge.
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