Plötzlich Baum: „Stammzellen“

von | 18.08.2025 | Belletristik, Buchpranger

Was, wenn die Umwelt sich für ihr Recht selbst einsetzt und die Menschen mit einer Krankheit in Bäume verwandelt? Alina Lindermuth hat das Gedankenexperiment in „Stammzellen“ durchgespielt. Vor allem aber erzählt sie eine recht konventionelle Geschichte über die Liebe, findet Worteweberin Annika.

Ronja ist Ärztin und engagiert sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich im sogenannten Dendro-Team: Sie unterstützt Familien von Personen, die von der neuen, noch wenig erforschten Krankheit, der Dendrose, betroffen sind. Wer an solch einer Dendrose leidet, verwandelt sich, bei den Zehen beginnend, langsam in einen Baum, bis er oder sie schließlich in Erde verpflanzt werden muss und alles Menschliche hinter sich lässt. Medikamente und Therapien gibt es bisher nicht.

Während einer Zugfahrt lernt Ronja den gutaussehenden Sprachwissenschaftler Elio kennen. Sofort gibt es zwischen beiden eine große Anziehung, aber es dauert einige Monate, bis aus beiden ein Paar wird. Während Ronja gelegentlich ein seltsames Kribbeln in den Zehen spürt und die Angst vor einer Erkrankung mit sich trägt, entwickelt sich die Beziehung zu Elio schnell weiter. Die beiden sanieren zusammen ein altes Häuschen im Grünen und träumen schließlich sogar von einer gemeinsamen Familie.

Das Bild einer Krankheit

Anders als der Corona-Virus – auf den der Roman durch das Erzählen einer Pandemie natürlich indirekt referiert – verbreiten sich die Dendrosen nicht durch Ansteckung. Ihre Entstehung diskutieren Forscher*innen bei Kongressen, sind aber uneins, ob der Klimawandel eine Erklärung sein könnte. Auch deswegen verbreiten sich immer mehr Verschwörungstheorien, während nutzlose oder gar gefährliche „Heilmittel“ propagiert werden. Andere Personen sehnen sich gar eine Dendrose herbei, um ihr Leben im Einklang mit der Natur zu beenden. Und dann häufen sich die Fälle weltweit und nun, anders als zu Beginn der Pandemie, sind auch junge Menschen betroffen …

Alina Lindermuth erzählt von Mechanismen, wie wir sie aus der Coronazeit ebenfalls kennen: Von Vorurteilen, Ängsten, Extremismus. Die von ihr konzipierte Krankheit behält dabei deutlich mehr Unberechenbarkeit, weil die Wissenschaftler*innen wenig über die Dendrosen herausfinden können, zu neuartig ist diese Krankheit.

Das Gedankenexperiment

Auch einige moralische Fragen spricht die Autorin an, wie zum Beispiel die nach dem „Weiterleben“ der zu Bäumen gewordenen Menschen, den sogenannten Anthrodendren: Einige Verarbeiten ihre verholzten Verwandten zu Möbeln, andere pflegen sie und lassen sich das vom Baum umgewandelte CO2 gutschreiben.

Jedoch hat das Szenario für mich als Leserin viele weitere Fragen und Überlegungen aufgeworfen: Wenn Menschen sich in Bäume verwandeln, wie stehen die Verbleibenden dann zum Beispiel zur Verwendung von Papier – warum lesen sie ihre Zeitungen weiterhin analog? Wie kann Ronja sagen: „Was ist schon eine Heimat heutzutage?“ und gleichzeitig beobachten, wie immer mehr Personen im wahrsten Sinne des Wortes Wurzeln schlagen? Und schließlich: Würde man nicht im Angesicht einer solchen Krankheit das Leben anders anpacken? Ich hätte mir von „Stammzellen“ mehr Experimentierlust erwartet, mehr Gedankenspiele, mehr Untersuchergeist.

Die Liebe, wie wir sie kennen

Stattdessen nimmt die Liebesgeschichte um Ronja und Elio im Roman viel Raum ein. Natürlich verlieben sich Menschen auch in Krisenzeiten und für den Untersuchungsgegenstand kann es durchaus interessant sein, die Situation unter die Lupe zu nehmen. Die Liebe zwischen Elio und Ronja bleibt durch die Dendrosen aber gerade zu Beginn weitestgehend unberührt, erlebt nur einige Startschwierigkeiten durch die Einstellung von Elios Familie. Diese Liebe scheint, auch davon abgesehen, sehr gewöhnlich. Alina Lindermuth erzählt von der Liebe, ohne dabei etwas anders zu machen als andere vor ihr, dabei hat doch das ungewöhnliche Setting sehr viel mehr erhoffen lassen. Lange Diskussionen zwischen den Liebenden bildet sie im Detail ab, schneidet dabei viele Themen an, ohne die Handlung oder inhaltliche Fragen voranzutreiben – mich hat sie damit spätestens ab der Hälfte des Romans leider verloren.

Auch wenn, ohne etwas vorwegnehmen zu wollen, der Romanverlauf das Liebespaar natürlich noch auf die Probe stellt, hat mich „Stammzellen“ durch den Versuchsaufbau und die fehlende Experimentierfreude nicht überzeugt.

Stammzellen. Alina Lindermuth. Kremayr & Scheriau. 2025.

Annika Depping

Annika Depping

Als Chefredakteurin versucht Annika in der Bücherstadt den Überblick zu behalten, was mit der Nase zwischen zwei Buchdeckeln, zwei Kindern um die Füße und dem wuchernden Grün des Kleingartens im Nacken nicht immer einfach ist. Außerhalb der Bücherstadt ist Annika am Literaturhaus Bremen mit verschiedenen Projekten ebenfalls in der Welt der Geschichten unterwegs.

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