Rom, 1978 – Rom, heute

von | 30.08.2017 | Belletristik, Buchpranger

Man vergisst beizeiten, dass „Stillbach oder Die Sehnsucht“ eigentlich ein Roman sein sollte. Wortklauberin Erika hat sich auf die Suche nach diesem fiktionalen Ort begeben, der in Sabine Grubers Roman omnipräsent erscheint.

Ines und Clara sind beste Freundinnen. Ines ist gestorben. Sie beide stammen aus Stillbach in Südtirol und haben gemeinsam studiert, ehe ihre Leben sie in unterschiedliche Staaten trieben. Clara lebt in Wien, Ines hatte ihre Zelte in Rom aufgestellt. Auf Bitten der Mutter Ines‘ erklärt sich Clara bereit, ihre eigenen Pläne – eigentlich wollte sie an ihrem ganz anderen Venedig-Führer weiterschreiben – vorerst auf Eis zu legen. Sie fährt nach Rom, um sich um die Wohnungsauflösung ihrer verstorbenen Freundin zu kümmern. Dabei ein Roman-Manuskript zu finden, hat sie nicht erwartet. Genauso wenig wie das Aufeinandertreffen mit dem Fremdenführer Paul, dessen Verbindung zu Ines ihm selbst nicht klar zu sein scheint.

Italien, post-faschistisch

Ines‘ Manuskript ist unvollständig, und ihre Wohnung ist voll von unvollendeten Gedanken, Notizen und Sachbüchern mit Hintergrundinformation. Es erzählt die Geschichte von Ines, die 1978 im Hotel Manente als Dienstmädchen zu arbeiten beginnt, und zugleich jene der Hotelinhaberin Emma dreißig Jahre zuvor. Emma kam in der Zwischenkriegszeit als Dienstmädchen nach Rom, um ihre Familie finanziell unterstützen zu können. An ihre Lebensgeschichte knüpft sich das wechselhafte Schicksal der Deutschen in der italienischen Hauptstadt. Während bis 1943 deutsche Dienstmädchen begehrt waren, wurden sie nach der Kapitulation Italiens mit Steinen beworfen.

Italien, Österreich und das Dazwischen

Der fiktionale Ort Stillbach liegt zwischen den Stühlen, zwischen italienischem und österreichischem Boden irgendwo zwischen Bozen und der Salurner Klause. Manche Südtiroler der 1970er Jahre halten an dieser unsichtbaren, nicht existenten Grenze ihre Pässe aus dem Autofenster, wenn sie sie auf dem Weg ins ‚richtige‘ Italien passieren. Sabine Grubers Roman spielt zwischen dem Damals und dem Heute, zwischen Rom, Stillbach und Wien, wobei sich die Handlung auf Rom konzentriert.

Damals und Heute, Jetzt und Davor

Durch das enge Nebeneinander von Gegenwart und Vergangenheit fühlt man sich orientierungslos zwischen dem Heute und dem Damals, dem Jetzt und dem Davor. Es wird durch den anregenden, stilistisch verfeinerten Erzählstil deutlich, wie sehr die Vergangenheit das Gegenwärtige bis heute durchwirkt. Hierzu trägt nicht zuletzt auch die Figur Paul bei, einem Wiener, der sich als Fremdenführer und Berufserinnernder in Rom niedergelassen hat. Er beschäftigt sich eingehend mit dem zweiten Weltkrieg und scheint nahezu alles über deutsche und italienische Kriegsverbrechen sowie die Terrorakte der kommunistischen Opposition zu wissen. Damit wird er zu einer Schlüsselfigur zur Klärung der historischen Umstände.

Still fließt der Bach

Sabine Gruber gelingt mit „Stillbach“ ein Balanceakt zwischen historischer Realität und der fiktiven Geschichte von einer Gruppe von Individuen, wie er nur selten gelingt. Wenngleich die Geschichte in der Geschichte – Rom, 1978: Ines als Dienstmädchen im Hotel Manente – auch grafisch gekennzeichnet ist, vergisst man beim Lesen die Grenze, welche sich eigentlich zwischen Geschichte und Fiktion ziehen sollte. Manche der erwähnten Kriegsverbrechen erscheinen zu grausam, um real zu sein, die fiktive Geschichte der neunzehnjährigen Ines im Jahr 1978 zu real, um fiktiv zu sein.

Mit der Wahl des großen Themas, der Frage nach der Identität, der Frage nach dem Schicksal Südtirols, reiht sich die in Lana (Südtirol, IT) geborene Schriftstellerin Sabine Gruber in eine Reihe der zeitgenössischen südtiroler Literatur, versteht es allerdings, das Thema neu aufzurollen und abseits des üblichen Schauplatzes Südtirol zu erarbeiten. Damit bringt sie einen erfrischenden Blick auf das heute als Europaregion gefeierte Gebiet, der zugleich von innen und von außen kommt.

Stillbach oder Die Sehnsucht. Sabine Gruber. C.H. Beck. 2011.

Bücherstadt Magazin

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