Bücherstädterin Kathrin ist großer Fan der Scary-Harry-Reihe von Sonja Kaiblinger. So konnte sie ihr Glück kaum fassen, als sie bei einem nächtlichen Spaziergang auf den berühmten Sensenmann höchstselbst traf und sich die Möglichkeit eines Interviews ergab.
Ich streife durch die Nacht und genieße die frische Luft. Der Mond steht voll am Himmel und taucht alles in ein mystisches Licht. Ich komme an eine Kreuzung und entscheide mich, rein intuitiv, nach links abzubiegen.
Plötzlich fährt haarscharf ein klappriger Lieferwagen an mir vorbei und bremst scharf. Aus dem Wagen steigt eine dürre, knochige Gestalt in einer schwarzen Kutte. In aller Seelenruhe greift er sich einige vermeintlich leere Gurkengläser von der Ladefläche und steuert auf die alte Villa zu, vor der ich stehe. Er scheint mich nicht zu bemerken. Mein Blick fällt auf seine unterschiedlichen Turnschuhe und dann auf das Straßenschild: Radieschenweg! Schnell zähle ich eins und eins zusammen: Das muss der sagenumwobene Scary Harry sein! Solch eine gute Gelegenheit hat sich mir seit dem Interview mit dem Grafen nicht mehr ergeben. Ich zücke meinen Notizblock, den ich für solche Fälle immer dabei habe, und folge ihm in die Villa.
Ich muss zugeben, mir ist etwas mulmig zumute. Wann trifft man schon mal auf einen waschechten Sensenmann? (Im besten Fall nur einmal und in hohem Alter.) Noch überwältigt von der Gelegenheit, die sich mir bietet, überlege ich, wie ich ihn am besten ansprechen soll. Herr Scary? Herr Harry? Einfach nur Harry?
Derweil beobachte ich, wie er seine Gurkengläser in eine alte Wanduhr stellt. Ja, ihr habt richtig gelesen – eine Wanduhr! Auf einem Förderband werden die Gurkengläser transportiert und verschwinden in der Dunkelheit – oder vielmehr ins Jenseits, denn in den Gläsern befinden sich eingefangene Seelen kürzlich Verstorbener, so viel haben meine Recherchen bisher ergeben. Ich verfolge die Geschichte dieses Sensenmannes schon länger.
Als er alle Seelen abgegeben hat, surrt die Wanduhr und spuckt einen Pfandzettel aus – es muss ja alles seine Richtigkeit haben. Als Scary Harry danach greifen will, habe ich mich entschieden, einfach mit einem dezenten „Entschuldigung“ auf mich aufmerksam zu machen. Das Skelett zuckt zusammen, dreht sich um, und lässt dabei den Zettel fallen. „Mannomann, hast du mich aber erschreckt!“
Gut, es herrscht also kein förmlicher Umgangston, wenn ich gleich geduzt werde. „Sind Sie der berühmte, sagenumwobene Scary Harry?“, bringe ich trotzdem hervor, da ich mich noch nicht überwinden kann eine Legende zu duzen.
Verwirrt schaut er mich an, dann blickt er hinter sich, ob ich vielleicht jemand anderes meinen könnte: „Berühmt? Sagenumwoben? Wer? Ich? Du sagtest Scary Harry, also meinst du wohl tatsächlich mich!“ Er scheint von diesen Worten geschmeichelt zu sein, zumindest meine ich eine leichte Rosafärbung seiner Wangenknochen zu erkennen, wie auch immer das bei einem Skelett möglich ist.
„Also das ist wirklich … Aber Moment mal, wieso kannst du mich sehen?“ Sein knochiger Zeigefinger tippt nachdenklich immer wieder gegen seine Oberlippe – nun, zumindest an die Stelle, wo die Lippen einmal waren. Es scheint sogar, als würde sich seine Stirn fragend kräuseln, dann leuchten seine Augen auf. „Ach, ich Trottel bin im Sichtbarkeitsmodus. Huch, na das ist mir ja lange nicht mehr passiert, dass ich vergessen habe, den zu deaktivieren! Ich bin völlig überarbeitet. Na ja, das haben wir gleich.“ Er will gerade seine Sense schwenken, um sich meinem Blick zu entziehen, aber so leicht lasse ich mich nicht abschütteln.
„Warten Sie doch bitte“, werfe ich ein. „Ich würde gerne ein Interview mit Ihnen führen!“
Er hält inne. „Ein Interview sagst du? Nun, eigentlich darf ich Lebenden keine Interviews geben, meine Arbeit beim SBI [Seelen-Beförderungs-Institut, Anmerkung der Interviewerin] ist nämlich streng geheim …“
„Nun“, beginne ich meine kleine Notlüge, „dann ist es ja gut, dass ich das Interview im Rahmen des Todesstadt Kuriers führen möchte.“ Ich halte die Luft an und hoffe, dass diese Halbwahrheit mir hilft, an Antworten von dem berühmten Skelett zu kommen. Denn natürlich lüge ich nicht beim Namen des Kuriers, aber ich verschweige, dass es sich definitiv um Lebende handelt, die diesen Artikel lesen werden, und habe fast ein schlechtes Gewissen. Aber die Geschichte um Scary Harry und seinen besten Freund Otto ist einfach zu gut, um sie euch vorzuenthalten.
„Todesstadt Kurier, sagst du? Hmmm, na ja, das wird schon klar gehen. Etwas Zeit hätte ich schon. Wollen wir uns setzen?“ Er bietet mir einen Platz auf dem Sofa von Tante Sharon an. In ihrem Haus befinden wir uns nämlich gerade. Hier wohnen Scary Harrys bester Freund Otto und seine Geisterfledermaus Vincent. Zu dieser späten Stunde scheinen die Bewohner aber alle zu schlafen.
Gespannt, was das Skelett zu berichten hat, setze ich mich ihm gegenüber. Scary Harry überschlägt lässig seine knochigen Beine und lehnt sich nach vorn. Er wartet auf die erste Frage.
„Warum Gurkengläser?“, platzt es aus mir hervor.
Etwas verdutzt schaut er mich an, dann lacht er. „Das ist eine sehr interessante erste Frage! Tja, Gurkengläser sind einfach enorm nützlich, sie haben genau die richtige Größe für eine Seele. Außerdem sieht man gleich, ob ein Glas belegt ist oder ob noch eine Seele reinpasst. Und der Schraubverschluss ist ungemein praktisch.“
„Hochinteressante Antwort“, erwidere ich und lasse meinen Stift über das Papier kratzen. „Für unsere Leserinnen und Leser, die noch nicht so viel über ihren Beruf beim SBI wissen, wie kommen die Seelen in das Gurkenglas und was passiert danach mit ihnen?“
„Meine Aufgabe ist es, die Seelen kürzlich Verstorbener einzusammeln. Dazu nutze ich dieses Schmetterlingsnetz“, er deutet zur Wanduhr, wo besagtes Netz an der Wand lehnt. „Das ist einfach die praktischste Vorgehensweise. Seelen sind klein und flink. Da muss man ganz schön auf Zack sein. Ein echter Knochenjob, sage ich dir, denn wenn ich es vermassele, und die Seele nicht rechtzeitig einfange, ist sie dazu verdammt, auf ewig als Geist im Diesseits zu bleiben. Und das ist kein Zuckerschlecken, glaub mir.“
„Das glaube ich. Und eingefangen im Gurkenglas bringen Sie die Seelen dann zu einem Portal, von welchem aus sie ins Jenseits befördert werden?“
„Richtig, aber bevor ich weiterrede, hör doch bitte mit diesem albernen Gesieze auf. Das irritiert mich, da fühle ich mich so alt!“ Ich nicke und verkneife mir einen Kommentar zu seinem Alter, denn schließlich weiß ich aus meinen Recherchen, dass Scary Harry 2021 mittlerweile sein 524. Dienstjahr bestreitet.
„Und per Seelen-Messenger erfahren Sie, … ich meine du, wo sich die Seelen befinden, die es einzufangen gilt?“
„Wieder richtig, ich sehe, du bist ganz schön gut informiert.“
„Oh, danke, ich verfolge deine Geschichte jetzt mittlerweile schon ziemlich lange, sozusagen von Band eins an bis zum letzten Band. Und es sind allesamt großartige Abenteuer, die du da zusammen mit Otto und seiner besten Freundin Emily erlebst! Ich habe mich jedes Mal großartig unterhalten gefühlt und mitgefiebert! Ich bin ein großer Fan.“
„Dafür ein Danke zurück! Da fühle ich mich sehr gebauchpinselt.“ Etwas verlegen blickt er zu Boden. Anscheinend fühlt er sich genötigt auch etwas Nettes zu sagen. „Ich mag deine Schuhe!“ Doch sein Kompliment klingt ehrlich. Er deutet nämlich auf meine schwarzweißen Chucks. Ich muss lachen, denn er trägt die gleiche Marke. „Das kann ich nur zurückgeben!“
Dann räuspere ich mich. Professionell wende ich mich wieder den wesentlichen Dingen zu. „Also, es gibt insgesamt neun Bände, richtig? Und die Abenteuer haben alle spektakuläre Titel. Es beginnt mit ‚Von allen guten Geistern verlassen‘, gefolgt von ‚Totgesagte leben länger‘ und ‚Meister aller Geister‘ … dann …“
„… ‚Ab durch die Tonne‘, ‚Hier scheiden sich die Geister‘, ‚Hals- und Knochenbruch‘ und ‚Knochengrüße aus Russland‘“, ergänzt Scary Harry.
Ich zähle der Vollständigkeit halber die letzten beiden Bände auf: „‚Zu tot, um wahr zu sein‘ und das große Finale ‚Das Skelett mit der goldenen Sense‘. Die Bände sollten aber schon in der richtigen Reihenfolge gelesen werden, oder?“
„Ja, absolut. Die Fälle an sich sind natürlich abgeschlossen, aber zum Beispiel die Frage, was mit Ottos verschollenen Eltern passiert, oder ob wir den Bösewicht Darko schnappen können, ziehen sich durch fast alle Bände. Da würde man sich sonst selbst spoilern.“
„Apropos Spoiler: Was ist mit Ihrem … ähm, deinem schicken Auto passiert? Du fährst ja jetzt wieder die klapprige Möhre, oder besser gesagt Gurke, vom Anfang.“
„Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Mein Geisterfahrer ist mit dem Wagen in der Werkstatt, aber als SBI-Mitarbeiter muss ich natürlich mobil bleiben.“
„Wie du zu deinem neuen Fahrzeug kommst, muss natürlich jeder und jede selbst nachlesen. Das wird an dieser Stelle nicht verraten.“
„Ein spoilerfreies Interview ist ganz nach meinem Geschmack“, sagt Scary Harry grinsend.
Ich nicke, bevor ich fortfahre: „Otto und Emily geht es hoffentlich gut?“
„Ja, hab‘ erst gestern mit ihnen abgehangen. Es gab Gruselfilme und Pizza in meiner Bude im Jenseits.“
„Das klingt nach Spaß, da wäre ich gerne dabei gewesen. Aber ich habe das Rezept für die Jenseits-Sonnencreme leider nicht. Ich wäre aufgefallen wie ein bunter Hund. Tja, da kann man nichts machen“, sage ich etwas wehmütig. „Aber, Themenwechsel: Jetzt, wo ich dir so gegenübersitze, muss ich sagen, die Illustrationen in den Büchern kommen dem Original, also dir, echt nah. Da hat der Künstler einen super Job gemacht. Ich hab‘ dich vorhin sofort erkannt.“
Zustimmend nickt Harry: „Ja, absolut. Fréderic Bertrand macht das wirklich gut. Ich finde, ich sehe auf seinen Bildern deutlich besser aus als auf Fotos und Sonja Kaiblinger muss natürlich auch gelobt werden.“
„Definitiv“, gebe ich zurück. „Sie bringt die Geschichte um dich und deine Freunde mit viel Humor und Spannung zu Papier.“
Plötzlich muss Harry kichern. Er scheint etwas hinter mir zu sehen. „Entschuldigung, aber Sir Tony [einer von Ottos drei Hausgeistern, Anmerkung der Interviewerin] regt sich gerade furchtbar darüber auf, dass einfach fremde Leute in sein Haus kommen, obwohl er meint, dass er schon zwielichtigere Personen als dich hier gesehen hat. Aber deine zerrissenen Hosen bereiten ihm Sorgen.“
Ich drehe mich um, aber wie zu erwarten sehe ich wie jede/r Normalsterbliche eben – genau: rein gar nichts. Dafür würde ich eine Geisterbrille benötigen, die ich nicht besitze, denn sie sind ein rares Gut.
„Oh, das tut mir leid. Ich will natürlich keine Unannehmlichkeiten bereiten.“
„Ach was“, Scary Harry winkt mit der knochigen Hand ab. „Der spielt sich nur auf und …“
„Was ist hier los? Ist das etwa ein Interview, das ohne mich stattfindet? Wo gibt es denn so was?“, krächzt eine heisere Stimme und schon kommt Ottos Geisterfledermaus Vincent im Sturzflug ins Wohnzimmer geflogen. Die kleine Fledermaus richtet sich direkt an mich: „Wollen Sie nicht die berühmt berüchtigte Geschichte von mir hören, wie ich Süßigkeiten ins Jenseits schmuggelte oder wie … He!“
Scary Harry fängt die Fledermaus ein und hält ihr den Mund zu. „Das ist hier ein spoilerfreies Interview, also halt besser deinen Schnabel, du alte Flugratte!“ Er lacht verlegen. „Tut mir leid, Vincent ist immer etwas aufdringlich, ich … Oh!“ Ein Signal ertönt und Harry zieht seinen Seelen-Messenger aus seiner Kutte hervor. Schnell überfliegt er die Nachricht. „Die Arbeit ruft, ich muss noch weitere Seelen einfangen.“ Er rafft seine Kutte, schnappt sich Schmetterlingsnetz und Sense und rennt zu Tür.
„Stopp!“, rufe ich. „Dein Pfandbon!“ Scary Harry nimmt den Beleg dankend entgegen. Bevor er in seinen Lieferwagen steigt, ruft er mir noch zu: „Folg mir doch auf Finstergram und lass mir unbedingt das Interview zukommen. Hat Spaß gemacht!“
„Mach ich“, rufe ich ihm hinterher. Also packe auch ich meine Sachen zusammen und begebe mich zur Haustür.
„He, du kannst mich doch noch interviewen!“, kräht Vincent vom Kronleuchter herunter.
So putzig ich diese Fledermaus auch finde, sie ist ganz schön aufdringlich. „Das nächste Mal vielleicht“, murmle ich und schließe schnell die Tür hinter mir, bevor auch ich in der dunklen Nacht verschwinde, mit einem breiten Grinsen auf den Lippen, weil ich eine weitere Legende interviewen durfte.
Wenn ihr nun neugierig auf den Sensenmann im mittlerweile 524. Dienstjahr, seine Freunde und die spannenden Abenteuer geworden seid, empfehle ich euch gleich mit Band 1 „Von allen guten Geistern verlassen“ zu beginnen und in die gruselige Welt von Scary Harry einzutauchen. Vergesst die Jenseits-Sonnencreme nicht!
Altersempfehlung 10 bis 12 Jahre und natürlich wie immer darüber hinaus!
Von allen guten Geistern verlassen. / Totgesagte leben länger. / Meister aller Geister. / Ab durch die Tonne. / Hier scheiden sich die Geister. / Hals- und Knochenbruch. / Knochengrüße aus Russland. / Zu tot, um wahr zu sein. / Das Skelett mit der goldenen Sense. Sonja Kaiblinger. Mit Illustrationen von Frédric Bertrand. Loewe. 2013-2021.
[tds_note]Ein Beitrag zum Special #Todesstadt. Hier findet ihr alle Beiträge.[/tds_note]
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