Schnell wie eine Heuschrecke oder: Du bist, was du isst

von | 01.05.2018 | #litfutter, Kreativlabor, Specials

Dan zog langsam die Schuhe an. Der Lauf um die Schulmeisterschaft stand unmittelbar bevor. Ein schöner Samstag, dieses letzte Juni-Wochenende bot hervorragendes Wetter. Das Schuljahr näherte sich dem Ende, alle Klassenarbeiten und auch die Abiturklausuren waren längst geschrieben, da konnte man sich dem Sport widmen. Für Dan, der ein zwar akzeptables, aber nicht herausragendes Abitur geschafft hatte, waren das die 1000 Meter, eine klassische, aber nicht olympische Distanz. Dies war die letzte Schulveranstaltung seines Lebens und er strebte einen würdigen Abschluss seiner Schulzeit an. Seine Konkurrenten waren alle aus der Oberstufe, die Mittelstufe und die Unterstufe hatten eigene Läufe.

Dan war schlank, mit seinen 180 cm nach heutigen Begriffen eher mittelgroß. Sieben Läufer standen neben ihm am Start. Seine Hauptkonkurrenten waren die wesentlich kräftigeren Marc und Ben, die genau wie Dan in der 13. Klasse waren. Eine Figur wie ein V hatte dieser Ben, bestimmt 1,90 Meter groß, ein attraktiver, junger Mann. Ihn hatte Dan gestern noch beim Vorbeigehen durch das Fenster des angesagten Fast-Food-Ladens in der City gesehen, Burger essend. Mit Nikki, deren Anblick Dan einen Stich ins Herz versetzt hatte. Dabei hatte er sich bis vor kurzem noch Hoffnungen gemacht. Jetzt war sie dort auf der kleinen Tribüne und hoffte sicherlich, dass Ben der Sieg gelänge … Ben, der Strahlende, Ben der Erfolgreiche, Ben, dem alles glückte …

Dan ging langsam zum Start, wo Marc, dessen Muskeln aufgrund seines ärmellosen Shirts deutlich zu sehen waren, zu posieren schien. Sind die Muckies aufgepumpt?, fragte sich Dan. Nahm Marc irgendwelche Pülverchen? Jedenfalls begrüßte ihn der mit den Worten: „Na, Dan, du Hungerhaken, hast du überhaupt genug Kraft, um hinter mir die Ziellinie zu passieren? Solltest vielleicht öfter mal ein Steak essen!“ Dieses dumme Gerede verdiente keine Erwiderung.

„Achtung, fertig, los!“ Das Rennen begann, und Dan, der früher den Fehler gemacht hatte, zu zeitig zuviel Tempo zu machen, lief erstmal an vierter, fünfter Stelle, lauernd, auf seine Chance wartend. Hinter Jörg, einem Zwölftklässler, befanden sich bereits Marc und Ben, selbstbewusst, kraftvoll. Nach der Hälfte der Distanz lagen sie immer noch vorne, aber Dan war ganz locker. Gut trainiert selbstverständlich, doch das war nicht alles. Denn er war mittlerweile davon überzeugt, dass Erfolg auch von der Nahrung abhängt, die man täglich zu sich nimmt. Seitdem er auf Fast-Food verzichtete, fühlte er sich nämlich wesentlich besser. Auch herkömmliche Fleischprodukte mied er seit einiger Zeit. Stattdessen bevorzugte er proteinreiche Lebensmittel auf Heuschrecken- und Algenbasis, probierte auch Sachen aus Soja oder Seegras.

Ernährungsthemen interessierten ihn, seit er einmal im Wartezimmer seines Hausarztes einen Artikel darüber in die Hände bekommen hatte. Da hatte er von den Treibhausgasen gelesen, die durch die Massentierhaltung entstehen, und davon, dass Viehzucht auch viel Wasserverbrauch bedingt. Es war also offensichtlich, dass die Ernährung in Zukunft sich radikal ändern musste, um dem gestiegenen Bedarf für immer mehr Menschen gerecht zu werden. Gesundheit und Umweltbewusstsein zählten nun wesentlich mehr, zudem erinnerte sich Dan an die Erzählungen seiner Oma, dass früher auch nicht soviel Fleisch gegessen worden sei. Außerdem war er auf die sogenannte Paleo-Diät aufmerksam geworden, das heißt Verzicht auf Zucker, Getreide und Hülsenfrüchte sowie Geschmacksverstärker, stattdessen viel Obst und Gemüse.

So fühlte er sich jetzt im Rennen auch richtig gut. Jörg, der bislang Führende, ließ hingegen spürbar nach. Zuerst zog Marc an ihm vorbei. Dann auch Ben und Dan. Die kraftvollen Schritte der beiden anderen trommelten auf der Laufbahn. Das spürte Dan deutlich. Wuchtig, stampfend. Irgendwie bedrohlich, einschüchternd. Doch Dan war leichtfüßiger, ausdauernder. Sein Blut pulsierte. Er spürte seinen eigenen Atem.

Undeutlich, brausend kam der Lärm von der Tribüne. Oh, waren sie schnell! Nur noch 50 Meter. Er begann zu sprinten. Wütend versuchten die beiden anderen dagegenzuhalten. Kräftiger waren sie, gewiss … Aber nicht so zäh, so konditionsstark, so explosiv und rasant! Dan beschleunigte noch einmal. Schließlich war er an ihnen vorbei. Gab auf den letzten Metern noch einmal richtig Gas. Die anderen beiden direkt hinter ihm! Verfolgend, drohend, zum Überholen ansetzend! Doch da war das Zielband … Kam näher und näher! Wurde größer und größer! Dan warf seine Brust nach vorne und … gewann! Erschöpft, aber glücklich hob er die Arme, freute sich auslaufend über seinen Sieg.

Marc, Ben und Jörg hatten hinter ihm die Ziellinie überquert, jetzt kamen die anderen. Schwer atmend stützten sie sich mit den Fäusten auf die Knie, nach vorne gebeugt. Sie schauten hinüber zu Dan, dem Sieger. Dessen Blick jedoch fiel auf Nikki, deren ausdruckslose Augen ins Nirgendwo zu blicken schienen, während sie oben auf der Tribüne in einen Hotdog biss. Kein schöner Anblick, irgendwie animalisch wirkend mit dem aufgerissenen Mund, dachte Dan. Doch da kam schon der Schuldirektor auf ihn zu, einen Siegerkranz in der Hand …

Text: Jürgen Rösch-Brassovan
Illustration: Federschreiberin Kristina

Ein Beitrag zum Special #litfutter.
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