Seit ich denken kann, fühle ich mich ungeliebt. Ich wette, Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, ein Platz zu sein. Und dann auch noch ein ungeliebter! Ich gebe Ihnen gerne einen Einblick:
Ich lebe in der U3 – ich bin der Platz am Fenster. Eigentlich bin ich toll. Wenn man auf mir sitzt, kann man rausschauen und träumen, während man Musik hört. Allerdings ist mein werter Nachbar von gegenüber viel begehrter – das erzählt er mir auch ständig. Setzt sich dort ein Reisender hin, wird als nächstes der Nachbar zu meiner Seite besetzt. Damit die Reisenden ihre Beine ausstrecken können, sich ihre Knie bloß nicht berühren und sich auf keinen Fall die Blicke kreuzen. Das verstehe ich auch irgendwie … Als nächstes ist dann der freie Platz am Gang weg, damit man nicht durch das Kniechaos muss und eventuell stolpert, wenn die Bahn losfährt. Ab diesem Moment hat niemand mehr Lust, sich zu mir durchzukämpfen und ich bleibe kalt und traurig. Ich möchte kein Mitleid von Ihnen und es ist mir durchaus bewusst, dass es schlimmere Dinge gibt, über die Sie sich den Kopf zerbrechen. Aber ich bin doch auch nur ein Platz! Ich hoffe bei jeder Station, dass ich jemanden erfreuen könnte.
Im August letzten Jahres änderte sich mein Leben radikal. Bei einer bestimmten Haltestelle stieg von einem Tag auf den anderen eine junge Frau ein – und sie hat mich ausgewählt! Ich lauschte glücklich den Klängen aus ihrem Kopfhörer und freute mich, dass sie keinen knochigen Po hatte, sondern einen gemütlichen, der mich nicht gezwickt hat. Ihre blonden Haare haben sich geschmeidig auf meiner Lehne angefühlt und so fuhren wir zwanzig Minuten. Es machte mir dann auch den restlichen Tag über nichts aus, dass sich niemand auf mich setzen wollte. Am nächsten Tag um die gleiche Uhrzeit stieg sie wieder ein und wählte mich. Ich glaube, ich hab mich verliebt.
Text: Poesiearchitektin Lena
Bild: Pixabay
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