Manchmal zieht die Lektüre eines Buches eine ganze Kette anderer Bücher nach sich. Zeilenschwimmerin Ronja wurde kürzlich in einen kleinen Sachbuchstrudel gezogen und hat dabei viel Neues über Tiere, Tierverhalten und unser oft verzerrtes Bild von unseren Erdenmitbewohnern (und uns selbst) erfahren.
Carl Safina: Die Kultur der wilden Tiere
Carl Safina legt am Beispiel von drei Spezies (Pottwale, Aras und Schimpansen) einen spannenden neuen Ansatz dar: Ist das Verhalten einer Spezies wirklich universell oder gibt es nicht viel eher regionale, sprich kulturelle Unterschiede? Kultur meint hier natürlich nicht „Hochkultur“, keine Skulpturen, Gemälde, Opern oder literarischen Werke, sondern die grundlegenden Verhaltensweisen, die wir alle erlernen, die sich aber regional unterscheiden. Safina schreibt, dass sich viele seiner Kolleg*innen gegen den Begriff Kultur in Bezug auf Tiere sträuben. Dies führt er zurück auf die Jahrhunderte währende Fixierung des Menschen auf die Abgrenzung zum Tier. Mehr und mehr Studien der letzten Jahrzehnte lösen diese Grenze jedoch auf – bei Intelligenz, Emotion und nun auch Kultur? Seine Beispiele machen dies gut deutlich.
Bei Pottwalen widmet er sich ihrer Kommunikation. Für ungeübte Ohren mögen die Laute der Wale alle gleich klingen, doch jede Pottwalfamilie hat eine eigene „Signatur“, eine Tonabfolge, die nur sie nutzt. Das Kapitel zu Aras behandelt das Schönheitsempfinden von Tieren und den Spaß am Spielen. Im letzten Kapitel beschäftigt Safina sich mit den Schimpansen, unseren nächsten Verwandten neben den Bonobos. Ihr Hang zur Gewalt, die starke, männlich dominierte Hierarchie und ihre „politischen“ Intrigen wirkten zunächst abschreckend auf ihn. Befreundete Primatologen konnten ihm jedoch auch die andere Seite der Schimpansen zeigen, die von Fürsorge, Gemeinschaft und Spaß geprägt ist. Ein versöhnlicher Blickwechsel – auch auf uns selbst. (Für eine intensivere Auseinandersetzung mit Schimpansen und Emotionen bei Tieren sei „Mamas letzte Umarmung“ von Frans de Waal empfohlen.)
Die Kultur der wilden Tiere. Wie Wale Familien gründen, Papageien schönsein lernen und Schimpansen Frieden schließen. Carl Safina. Übersetzung: Sigrid Schmid und Gabriele Würdinger. C.H. Beck. 2022.
Katharina Jakob: Warum Wale Fremdsprachen können
Auch Katharina Jakob beschäftigt sich mit den Erkenntnissen der Verhaltensforschung der letzten Jahrzehnte. Jakob verfolgt einen ähnlichen Ansatz wie Carl Safina in „Die Kultur der wilden Tiere“, wartet jedoch mit einer größeren Artenvielfalt auf. Zu erfahren gibt es einiges über Wale, Hunde, Vögel (Tauben, Rabenvögel, Papageien), Wirbellose (Bienen und Kraken), Präriehunde und Menschenaffen.
Ein zentraler Punkt von Jakobs Ausführungen ist die Auflösung der Grenze zwischen Mensch und Tier. Schon die Begriffe Intelligenz und Gefühle waren bei Tieren für viele Forscher*innen lange Zeit völlig undenkbar, jetzt sieht das anders aus. Nun entsteht auch Raum für die Wahrnehmung von Kultur bei Tieren und zuvor kleingeredete Fähigkeiten werden nach und nach anerkannt. Forscher*innen dürfen endlich in diese Richtung denken und forschen.
„Warum Wale Fremdsprachen können“ präsentiert zahlreiche spannende Fakten über das Verhalten der Tiere und zeigt, wie willkürlich die Trennung zwischen Mensch und Tier ist. Gut zu lesen und ein schöner Einstieg ins Thema.
Warum Wale Fremdsprachen können und andere erstaunliche Erkenntnisse über die geheimen Fähigkeiten der Tiere. Katharina Jakob. Heyne. 2018.
Enric Sala: Die Natur der Natur
In „Die Natur der Natur“ geht es um Artenvielfalt oder vielmehr Biodiversität, wie der wissenschaftlichere und vom Autor bevorzugte Begriff lautet. Anhand von kleinen und großen Experimenten (wie etwa „Biosphäre 2“ in den 90er-Jahren) veranschaulicht Sala einzelne Aspekte eines funktionierenden Ökosystems und seine Komplexität. Daran schließen sich Beispiele für das Zusammenspiel der Arten an. Jedes Ökosystem baut auf Pionierarten auf, die einen Lebensraum erst für andere Arten bewohnbar machen, und braucht bestimmte Schlüsselarten, ohne die zum Beispiel die Nahrungskette aus den Fugen geraten würde. Zuletzt geht es in „Die Natur der Natur“ auch um die Rolle des Menschen, als eigenes Ökosystem, als Schlüsselart und als Gefahr für andere Systeme. Spannend ist hier auch das kurz vor Veröffentlichung ergänzte Kapitel, in dem am Beispiel von Covid-19 das Zusammenspiel unseres Umgangs mit der Natur und (potentiell pandemischen) Krankheiten erklärt wird.
Die wohl wichtigste Botschaft dieses Buches ist: Schon der Verlust einer einzelnen Art oder die falsche Art an der falschen Stelle kann ein ganzes Ökosystem zum Einsturz bringen. Ein gut geschriebenes Sachbuch, das deutlich macht, wie wichtig Biodiversität und der Schutz aller Arten ist, und wie wenig wir eigentlich über unseren Planten wissen.
Die Natur der Natur. Ein Appell für die Artenvielfalt. Enric Sala. Übersetzung: Karl-Heinz Ebnet. National Geographic. 2021.
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