Seit fast 40 Jahren verzaubert uns Hayao Miyazaki mit wundervollen Geschichten, fantastischen Welten und liebenswürdigen Charakteren. Erzähldetektivin Annette hat sich mit der Dokumentation „The Kingdom of Dreams and Madness“ auf die Spuren des japanischen Regisseurs begeben und konnte ebenso interessante wie menschliche Einblicke in seine Gedanken- und Gefühlswelt gewinnen.
Als das Studio Ghibli im August 2014 eine längere Pause zwecks umfassender Neustrukturierung verkündete, waren Fans weltweit betrübt. Das japanische Zeichentrickstudio ist verantwortlich für Filme wie „Mein Nachbar Totoro“, „Chihiros Reise ins Zauberland“ oder „Das wandelnde Schloss“. Eng verwoben mit diesen und weiteren Meisterwerken ist Hayao Miyazaki, einer der Mitbegründer des Studios, der sich 2013 mit „Wie der Wind sich hebt“ in den Ruhestand verabschiedete. Die im selben Jahr erschienene Dokumentation „The Kingdom of Dreams and Madness“ zeichnet nicht nur die Entstehungsgeschichte des Oscar nominierten Spielfilms nach. Sie gewährt persönliche und intime Einblicke in das Leben und die Gedankenwelt des japanischen Anime-Meisters.
Miyazakis Alltag ist überraschend streng strukturiert: Aufstehen und Arbeitsbeginn täglich zur selben Zeit, eine kurze Mittagspause, dann Arbeiten bis spät in den Abend hinein. Mit Hilfe von Schlaftabletten wird eine nächtliche Ruhepause erzwungen, bevor es am nächsten Morgen wieder an den Zeichentisch geht. Nur sonntags führt der Weg nicht ins Studio – dann ist Miyazaki damit beschäftigt, seinem Heimatort etwas Gutes zu tun und beispielsweise den nahegelegenen Fluss zu reinigen. Mit Politik und Kapitalismus möchte er nichts am Hut haben. Als hochsensibler Mensch möchte er die Welt zu einem schöneren Ort machen.
„Unglaublich, was gerade auf der Welt passiert“
In seinen Filmen versteht er dies grandios. Die fantastischen Welten, die er bis ins kleinste Detail gestaltet, sind stets von ebenso liebenswürdigen wie kuriosen Charakteren bevölkert. Die meist kindlichen Helden erleben Abenteuer, müssen dramatische oder tief traurige Ereignisse verarbeiten und dürfen doch auf ein glückliches Ende hoffen. „Kinder halten diese Welt zusammen“ sagt Miyazaki und dass er schon immer Kinderfilme habe machen wollen. Von all seinen Werken mag er daher „Porco Rosso“ am wenigsten, da dieser kein Kinderfilm sei.
Miyazakis Filme geben Lebensmut und spenden Hoffnung. Im realen Leben scheint ihm selbst jedoch eine solch positive Sichtweise abhanden gekommen zu sein. Unmittelbar nach der Geburt, so Miyazaki, gingen dem Leben die Möglichkeiten verloren. Selbst wer nach vermeintlichen Idealen lebt, wird auf lange Sicht von sich und der Welt enttäuscht werden. Träume sind schlecht und fast alles in der Welt ist wertlos. Sorgen machen ihm der Rechtsruck ebenso wie die Finanzkrise und der Unwille der japanischen Regierung, aus der Atomenergie auszusteigen. Miyazaki wirkt desillusioniert und scheint an seinem eigenen Anspruch zu zerbrechen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Stimmungsschwankungen, Schlafprobleme und eine tiefsitzende Verbitterung zeichnen den Regisseur aus. Ganz offen spricht er davon, keine Energie mehr für das Leben übrig zu haben.
Mit sich und der Welt ins Reine kommen
Umso beeindruckender wirkt die Innbrunst, mit der er sich auf seine Arbeit stürzt. Miyazaki ist bei allen Arbeitsschritten dabei, entwirft das gesamte Drehbuch am Zeichentisch. Mit den Angestellten des Studios geht er dabei nicht gerade zimperlich um. Er verlangt viel von seinen Mitarbeitern, wenn auch nichts, was er nicht auch von sich selbst erwarten würde. Viele verschreckt er jedoch mit diesem Verhalten. Sie verstehen einfach nicht, wie er sich die Dinge vorstellt und was ihm für seine Werke vorschwebt. Dass Miyazaki dies selbst oft nicht weiß, macht die Sache sicherlich nicht einfacher. „Ich weiß nicht, wie die Geschichte ausgeht“ sagt er und ist überzeugt: „Filme sind wirklich lebendige Wesen“, die sich aus sich selbst heraus entwickeln. Eigentlich eine sehr schöne Vorstellung.
Miyazakis Filme scheinen jedoch nicht nur auf sein Publikum eine heilende Wirkung zu haben. Das gespaltene Verhältnis zum Vater ist der wichtigste Antrieb für seinen letzten Film „Wie der Wind sich hebt“. In der Hauptfigur des pazifistischen Flugzeugkonstrukteurs Jirō Horikoshi, Konstrukteur einer der wichtigsten Kriegsflugzeuge des zweiten Weltkriegs, scheinen sich all die Widersprüche zu manifestieren, die Miyazaki nicht nur in seinem Vater sieht, sondern auch bei sich selbst feststellt. Während der Dreharbeiten erreichte ihn der emotionale Brief eines Mannes, der sich an die Hilfe erinnert, die Miyazakis Vater ihm und seiner Familie zu Kriegszeiten gewehrte. Ohne zu viel zu verraten: Es wird deutlich, wie sehr dieses Schreiben das Ende des Films beeinflusst hat. Zum Ende seiner Karriere möchte Miyazaki mit sich und der Vergangenheit ins Reine kommen.
Eine Dokumentation, wie sie sein sollte
Über ein Jahr begleitete die Dokumentarfilmerin Mami Sunada Hayo Miyazaki, seinen Konkurrenten Isao Takahata und Toshio Suzuki, Produzenten und ehemaligen Studio Ghibli-Präsidenten, bei ihrer Arbeit und in ihrem Alltag. Mit „The Kingdom of Dreams and Madness“ ist ihr eine wundervoll emotionale Dokumentation gelungen, die einen Ausschnitt aus dem Leben dreier besonderer Menschen einfängt und doch so viel mehr zeigt, als nur das Entstehen filmische Werke.
Auf technisch wie inhaltlich beeindruckende Art und Weise macht Sunada deutlich, wie Dokumentationen nicht nur recherchierte Informationen aufbereiten, sondern Gefühle und philosophische Fragen vermitteln können. Wenn sie die Pressekonferenz zur Ankündigung der jeweils letzten Filme von Miyazaki und Takahata mit den zynischen aber ehrlichen Aussagen Miyazakis gegenschneidet, unterstreichen sich die Szenen gegenseitig. Selbst die vielen Aufnahmen der studioeigenen Katze Ushiko wirken in keiner Weise kitschig oder fehl am Platz.
Einzig für Ghibli- oder Miyazaki-Neulinge wird der Film ein wenig verwirrend sein, da kaum grundlegende Fakten vermittelt werden. Die persönlichen Motivationen aller Beteiligten werden dafür jedoch umso eindrucksvoller eingefangen. „The Kingdom of Dreams and Madness“ ist ein Film über das Leben, die Liebe dazu und das Zweifeln daran.
The Kingdom of Dreams and Madness. Regie: Mami Sunada. Drehbuch: Mami Sunada. Darsteller u.a.: Hayao Miyazaki, Isao Takahata, Toshio Suzuki. Universum Film. Japan 2013. Erscheinungstermin: 11.06.2016.
0 Kommentare