Über fremde Stille, vertraute Schwere und verzauberte Sprache

von | 08.11.2025 | Belletristik, Buchpranger

Die aus Bremerhaven stammende Autorin Gesa Olkusz führt uns in ihrem Roman „Die Sprache meines Bruders” in die Familiengeschichte von Kasimir und Parker: „Alles beginnt mit einer Melodie“ (S. 5). Diese Tonalität, von der Schwere der Worte oder eben des Ungesagten, begleitet uns auf den Seiten des Romans und verzaubert mit ihrer poetischen Sprache, findet Bücherstädterin Alica.

Ein Kaleidoskop von Erzählung

„Die Sprache meines Bruders“ beschreibt das Verhältnis zweier Brüder: Kasimir, der Jüngere, und Parker, der als Chauffeur arbeitet. Die Brüder sind mit ihrer Mutter in die USA ausgewandert und schlagen sich seitdem in der Fremde durch. In ihrem Haus wohnen sie nach dem Tod der Mutter allein, bis Luzia in ihr Leben tritt. Doch Luzia will nach Panama reisen. Dieser Umbruch manifestiert sich in den beiden Brüdern auf unterschiedliche Weise.

Wir erleben den Roman durch unterschiedliche Perspektiven, wobei sich die stetig wechselnde Erzählweise wie ein Kaleidoskop anfühlt, das je nach Lichtschein seine Farbnuancen und Muster verändert. Je nach Erzählung bekommt die Handlung eine neue Perspektive und damit ein neues Verständnis des Geschehens. Nach dem Einlesen in das Erzählmuster imponierte der Roman durch seine poetische Sprache. Mit voller Bedachtheit und ausgeklügelten Narrativen wirkte die Erzählung auf mich wie ein fein konstruiertes Werk, das Einsamkeit und Zerrissenheit darstellt und einen in den Sog von Aufbruch zieht.

Durch die Schwerpunktsetzung auf die sprachliche Schönheit blieb für mich die Thematik der Migration und des Hinterlassens ein wenig auf der Strecke. Mit der Beschreibung der Familienkonstellation wird nicht benannt, weshalb die Familie ausgewandert ist. Ein Aspekt, der mich persönlich näher interessiert hätte. So wie sich die Brüder in ihrem Dasein, im neuen Haus, allein gelassen fühlen, habe ich ihre Emotion auch als Leserin eingefangen und fühlte die Sehnsucht nach Sicherheit, die durch die Perspektive der Geschwister transportiert wurde.

„Worte fand keiner von ihnen für dieses Missverständnis, denn sie dachte ja nicht einmal an dasselbe.“ (S. 67)

Die Sprache der Gedanken und heimatlose Träume

In Gesa Olkusz’ Roman findet wenig bis kein Dialog statt; er wird eher durch innere Monologe, deskriptive Gedankenwelten und Handlungen gezeichnet. Aus diesem Aspekt heraus wird auch die Bruder-Dynamik beleuchtet. Nach dem Tod der Mutter und dem Verbleib in dem neuen Haus stellt sich zwischen den Geschwistern eine Form neuer Isolation ein. Kasimir empfindet Furcht und Scham, nicht mit seinem Bruder mithalten zu können. Gefühle, die sich erst mit dem Tod der Mutter eingeschlichen haben. Er bewundert Parker dafür, so gut im Umgang mit Worten zu sein, und weiß gleichzeitig nicht, was er mit all diesen Worten anfangen würde.

Das Haus, in dem die beiden nun allein sind, manifestierte sich für mich beim Lesen als Symbol ihres Umbruchs und unterschiedlicher Formen von Isolierung, wenn es beispielsweise heißt: „Hinter ihm das ganze Haus, in seinem Rücken erstrecken sich alle Räume wie eine Flucht aus Stillstand (…)“ (S. 37-38). Das Gefühl, das dem Verbleib im Haus innewohnt, zeigt die Zerrissenheit des Daseins und eine Einsamkeit, die über Kontinente hinweg führt.

„Der Mond, der bleich im Himmel leuchtet und auf den er seine Aufmerksamkeit konzentriert, dessen Existenz und Verhältnis zur Erde er zu verinnerlichen sucht, um mehr Distanz zu seiner eigenen Existenz, eine Art Zustand gehobener Apathie, zu erreichen.“ (S. 58)

Als Luzia in das Leben der beiden Brüder tritt und ebenfalls in das Haus zieht, bekommt die Dynamik der Männer einen neuen Ton. Unabhängig voneinander finden sie in Luzia etwas, das ihnen neue Kraft gibt, einen Anlauf, etwas zu wollen, und den Wunsch nach Sicherheit, Zuhause und beständigen Entscheidungen.

„Sie sah sich um, das vertraute Zimmer beinahe schon gestrig.“ (S. 98)

Durch Luzias Erscheinen bekommen wir ein neues Verständnis vom Leben des Hauses, wie es war, als die Mutter noch darin hauste. Zugleich sehen wir im Abbild der Verstorbenen die Bewunderung, alles hinter sich lassen zu können: „Ein Stück Realität in dieser Parodie eines Hauses.“ (S. 97) Luzia beschreibt das Haus als Erzählerin neu und verleiht damit sowohl ihm als auch der Brüderkonstellation eine neue Farbe.

Kurze Handlung, Schönheit der Sprache

Die Handlung zeichnet sich durch die Perspektivwechsel in ihrer Erzählung aus und bot für mich eine interessante Komponente, um die Dynamik von Mutter, Söhnen und dem Haus noch näher zu entschlüsseln. Durch die kurze Handlung ist der Roman dennoch von Vielschichtigkeit geprägt und hinterlässt Spuren, die über die Lesezeit hinausgehen – für Liebhaber*innen poetischer Sprache sehr zu empfehlen!

Die Sprache meines Bruders. Gesa Olkusz. Residenz Verlag. 2025.

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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