Verluste: Bücher über Tod, Trauer und Schlussstriche

von | 17.06.2024 | Belletristik, Buchpranger

Etwas geht zu Ende – ein Lebensabschnitt, ein Leben, ein Zeitalter – und zurück bleibt ein nagendes Gefühl der Trauer. Diese vier Romane und Essays erzählen von Verlusten und davon, wie wir mit ihnen umgehen können. – Von Worteweberin Annika

„Die Zeit der Verluste“

Mit seinen literarischen Essays ist Daniel Schreiber ein Bestsellerautor geworden. „Die Zeit der Verluste“ nimmt nach dem Alleinsein, der Heimat und dem Trinken nun das Thema Trauer und Verlust in den Blick. Wie in den vorigen Bänden geht Schreiber vom Persönlichen aus: Mit dem Tod seines Vaters beginnt für ihn die Auseinandersetzung mit Verlusten. Dabei geht es nicht nur um eine Aufarbeitung und Verarbeitung des persönlichen Verlustes, sondern auch um gesellschaftliche Trauer im Anthropozän, dem Klimawandel, Kriegen und politischer Radikalisierung entgegenblickend.

Mit Literaturrecherche unterfüttert Schreiber seine Beobachtungen und Gedanken und verwebt sie mit der Erzählung eines Tages in Venedig. Warum beschäftigen wir uns so ungerne mit dem Tod? Welche Bedeutung kommt in unserer Kultur Bestattungsriten zu? Wie verändert sich das Leben nach einem großen Verlust? Dieser Essay ist lehrreich für alle, die schon einmal getrauert haben, aber auch alle anderen – nicht nur durch die schwindenden Gewissheiten unserer Zeit, sondern auch wegen einer unumstößlichen Gewissheit: Irgendwann werden wir alle Verluste erleben. Auch wenn ich insbesondere „Allein“ noch stärker erzählt fand, hat Daniel Schreiber mich auch mit „Die Zeit der Verluste“ wieder überzeugt und dazu bewegt, mich mit unliebsamen, doch so wichtigen Themen auseinanderzusetzen. Daher kann ich auch dieses Essay sehr empfehlen.

„Nach den Fähren“

Ein Strand voller Hotels, Geschäfte voller Souvenirs, Traditionen und Feierlichkeiten extra für die Feriengäste – doch eines Tages steuerten die Fähren die kleine Insel plötzlich nicht mehr an. Und mit ihnen blieben die Tourist*innen weg. Wer konnte, flüchtete aufs Festland – nur wenige sind bis heute geblieben, ganz ohne Kontakt zur Außenwelt, eingerichtet in einem Kosmos der Überbleibsel. Erst als ein unbekanntes Mädchen auf unerklärliche Weise auftaucht und kurz darauf wieder verschwindet, brechen die Inselbewohner*innen aus ihrer Starre und der Einsamkeit aus und wagen sich in ein selbstbestimmteres Leben.

Thea Mengeler erzählt in ihrem Roman von einer namenlosen, nicht näher verorteten Insel. Was hier geschieht, scheint undenkbar, doch genau das wirft Fragen auf, die wir uns dringend stellen müssen. Was passiert, wenn wir uns nicht mehr nach den anderen richten? Welche Zukunft hat Tourismus? Und welche die globalisierte Welt? Die Figuren des Romans stehen dazu unterschiedlich. Auf den ersten Blick sehnen sie sich die Fähren alle zurück und nicht alle wollen auf der Insel bleiben, doch unter die Hoffnung mischt sich auch Angst. Zu den Figuren und zum Geschehen wahrt die Autorin eine Distanz, durch die es etwas dauert, bis man ganz in die Geschichte eintauchen kann und die Handlung Fahrt aufnimmt. Dann aber gelingt es Mengeler, mit Ruhe und klarer Sprache von den Verlusten und der Veränderung zu erzählen. „Nach den Fähren“ ist ein nachdenklicher, wunderbarer Roman!

„Milchzähne“

„Milchzähne“ war 2019 Helene Bukowskis Debütroman. Dieses rätselhafte, dystopische Buch begleitet Skalde und ihre Mutter Edith in eine Welt ohne Wolken und Regen – eine nicht unrealistische Klimafiktion. Hier herrschen strenge Regeln, denn nur so glauben die Menschen in diesem Teil der Welt, überleben zu können: Fremde sind verboten. Daher wurde die Brücke zur „anderen Seite“ vor Jahren zerstört. Doch Skalde findet im Wald ein fremdes Mädchen mit roten Haaren und beschließt, Meisis bei sich aufzunehmen – wegen des Verbots ein riskantes Unterfangen. Während sie und Edith, die vor zwanzig Jahren ebenfalls von der anderen Seite kam, vorher Außenseiterinnen waren, ist ihre Existenz in der Gemeinschaft jetzt bedroht.

In einem rauen Ton, kurzen Kapiteln und knappen Sätzen denkt Helene Bukowski in „Milchzähne“ politische Themen unserer Gegenwart weiter und zeigt eine Gesellschaft, die von vielen Verlusten geprägt ist. Wie sieht das Ende der Welt aus? Ich habe „Milchzähne“ in einem Rutsch gelesen, habe mich in der Sprache von Skaldes Aufzeichnungen und dieser seltsamen Geschichte verloren.

„Paradise Garden“

Billie ist vierzehn und findet sich plötzlich am Grab ihrer Mutter Marika wieder. Während der bis dahin wichtigste Mensch ihres Lebens unter die Erde kommt, läuft ihr das Blut die Beine herab – mit ihrer ersten Regelblutung beginnt ihre Reise in ein neues Leben. „Paradise Garden“ von Elena Fischer ist ein Roman über einen Verlust, aber auch über die Hoffnung auf Heilung und Neuanfänge.

Eigentlich wollten Billie und ihre Mutter nach einem Gewinn im Radio endlich einmal gemeinsam verreisen – bisher war das Geld immer zu knapp gewesen. Doch dann kündigt sich spontan Billies Großmutter aus Ungarn an. Sie muss in Deutschland untersucht werden und wird in den nächsten Wochen in die winzige Wohnung im Plattenbau mit einziehen. Das Problem: Billies Mutter und die Oma sind noch nie gut miteinander ausgekommen. Und so ist der Streit vorprogrammiert, in dem Marika mit dem Kopf auf die Tischkante knallt …

„Die Trauer kommt und geht wie Ebbe und Flut, aber da ist sie immer.“ Der Verlust packt die Vierzehnjährige mit voller Wucht, löst Verzweiflung aus und auch die unstillbare Hoffnung darauf, ihren bislang unbekannten Vater zu finden. Mit dieser Hoffnung beginnt in der zweiten Hälfte des Romans ein Roadtrip, der Billie bis an die norddeutsche Küste führt. Elene Fischer zeigt viel Verständnis und Sympathie für ihre halbwüchsige Protagonistin, die uns Leser*innen schnell ans Herz wächst. „Paradise Garden“ liest sich dank des hohen Tempos und des Spannungsbogens zügig. Elena Fischer gelingt es, eine traurige Geschichte mit Humor und einer ausreichend kleinen Portion Kitsch zu erzählen – eine gelungene Mischung!

  • Die Zeit der Verluste. Daniel Schreiber. Hanser. 2024.
  • Nach den Fähren. Thea Mengeler. Wallstein. 2024.
  • Milchzähne. Helene Bukowski. Blumenbar. 2019.
  • Paradise Garden. Elena Fischer. Diogenes. 2023.
Annika Depping

Annika Depping

Als Chefredakteurin versucht Annika in der Bücherstadt den Überblick zu behalten, was mit der Nase zwischen zwei Buchdeckeln, zwei Kindern um die Füße und dem wuchernden Grün des Kleingartens im Nacken nicht immer einfach ist. Außerhalb der Bücherstadt ist Annika am Literaturhaus Bremen mit verschiedenen Projekten ebenfalls in der Welt der Geschichten unterwegs.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir sind umgezogen!

Wir sind kürzlich umgezogen und müssen noch einige Kisten auspacken. Noch steht nicht alles an der richtigen Stelle. Solltet ihr etwas vermissen oder Fehler entdecken, freuen wir uns über eine Nachricht an mail@buecherstadtmagazin.de – vielen Dank!

Newsletter

Erhaltet einmal im Monat News aus Bücherstadt. Mehr Informationen zum Newsletter gibt es hier.

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner